Unsicherheit ist unvermeidbar. Dennoch versuchen die meisten Menschen, Unsicherheiten zu umgehen. Für das Management von Risiken ist das der denkbar schlechteste Weg. Bei den ESG-Risiken (Environmental, Social, Governance) kommt hinzu: Wie auch bei anderen sich dynamisch entwickelnden Risiken, reicht das konventionelle Risikomanagement nicht aus. Die Risiken, denen sich die Gesellschaft und damit auch die Finanzindustrie heute gegenübersehen, entwickeln sich zu dynamisch und sind zu komplex. Doch es gibt alternative Ansätze und Methoden, um auch mit Unsicherheit und Ungewissheit besser umgehen zu können. Die Lücken bei der Modellierung von teils unbekannten Risiken können gut mit dem oben dargestellten Feld voller Mohnblumen aufgezeigt werden: In wenigen Sekunden soll die Gesamtzahl der Blumen ermittelt werden, kann sie aber in der Kürze der Zeit nicht alle zählen. Das Problem mit den Mohnblumen würde ein typischer Risikomanager in Teilprobleme zerlegen, deren Lösungen dann addiert werden: Die Mohnblumen im Vordergrund des Bildes werden gezählt, in diesem Beispiel vier. Die in wenigen Sekunden schwerer zählbaren Mohnblumen im Hintergrund werden geschätzt, auf ungefähr 200. Die Gesamtzahl ist die Summe aus beiden Berechnungen, also 204.
Hier werden unbewusst zwei Prinzipien angewandt: Detailverliebtheit und waghalsige Annahmen. Die Menschen neigen dazu, gut verstandene Probleme – zwei Beispiele wären die Blumen im Vordergrund oder physikalische Klimarisiken – detailgenau zu modellieren. Andere, schlechter verstandene Probleme, zu denen wenig Wissen vorhanden ist, die Blumen im Hintergrund oder transitorische Risiken, werden, wenn überhaupt, mit groben Annahmen überschlagen. Im Umgang mit Risiken sind beide Prinzipen wichtig und richtig. Aber deren unbewusste Anwendung und insbesondere die Kombination der Einzelergebnisse, ohne die Annahmen, wechselseitigen Abhängigkeiten und Unsicherheiten transparent zu machen, führt zu irreführender Scheingenauigkeit im Endergebnis. Die Relevanz der ESG-Risiken hängt nicht davon ab, wie gut wir sie verstehen und modellieren können. Für eine realistischere Einschätzung und Bewertung muss der Umgang mit nicht verstandenen, nicht quantifizierbaren Risiken verbessert werden.
Die großen Herausforderungen bei ESG-Risiken für den Risikomanager bestehen in der hohen Unsicherheit, was die Eintrittswahrscheinlichkeit und deren direkte und indirekte Folgen angeht. Angesichts weniger Daten und hoher Ungewissheit eignen sich hergebrachte Methoden und Verfahren für das Management dieser Risiken nicht. ESG-Risiken bergen vielfältige und nicht eindeutige Auswirkungen und Ansteckungseffekte für Unternehmen, Menschen und die Gesellschaft.
Die Zeithorizonte sind dabei deutlich länger als im klassischen Risikomanagement. Sie umfassen häufig mehrere Jahrzehnte. Der Umgang mit ESG-Risiken ist vergleichbar mit dem Risikomanagement von Zukunftstechnologien wie Gentechnik und Geoengineering. Hier steht man ähnlichen Herausforderungen gegenüber.
Von den beaufsichtigten Unternehmen eine genaue Modellierung aller ESG-Risiken zu verlangen, ist unökonomisch. Stattdessen gibt es bessere Ansätze, sich dem Thema Unsicherheit und Ungewissheit zu nähern.
Eine andere Perspektive auf das Thema Unsicherheit
Der beste Weg ist ein konstruktiver Umgang mit Unsicherheit. Der erfolgreiche Einsatz bewährter Instrumente des Risikomanagements (Hard Tools) korreliert dabei stark mit dem Grad der Unsicherheit (siehe Abbildung 1). Risiko ist ein Bereich nahe der Gewissheit. Hier kann man zwar keine exakten Vorhersagen treffen, aber mit mathematischen Instrumenten Eintrittswahrscheinlichkeiten und Auswirkungen von Ereignissen berechnen. In diesem Bereich ist das konventionelle Risikomanagement – auch in der Finanzindustrie – angesiedelt.
Daran schließt sich der Bereich der epistemischen Unsicherheit an. Bei epistemischer Unsicherheit ist nicht mehr alles quantifizierbar. Daten sind nicht verfügbar oder existieren nicht. Aber es gibt prinzipiell Wissen und Möglichkeiten, sich dem Thema zum Beispiel mittels Szenarien und dem Emerging Risk Management zu nähern. Weiter auf dem Spektrum der Unsicherheit in Richtung Ignoranz, findet sich die paradigmatische Unsicherheit. Hier herrscht Uneinigkeit, was das Problem als solches und die anwendbaren Methoden zu seiner Näherung angeht. Die paradigmatische Unsicherheit ist charakteristisch für das Verhalten und die Steuerung komplexer Systeme. Diese Kategorie der Unsicherheit trifft beispielsweise auf das Problem der systemischen Risiken mit Ansteckungseffekten und grenzüberschreitenden Auswirkungen von Risiken zu, die nicht mehr angemessen in Szenarien abbildbar sind. Noch weiter in Richtung Ignoranz findet sich der Bereich der Ambiguität. Unter Ambiguität fallen Wertesysteme, wissenschaftlich nicht beweisbare Glaubenssätze und Überzeugungen, die miteinander konkurrieren können, und eine wichtige Rolle beim Umgang mit Ungewissheit spielen.
Die Erfolgsaussichten des klassischen Risikomanagements mit seinen bewährten Instrumenten wie der (Natur-)Wissenschaft, Daten und Modellen sind umso schlechter, je weiter man sich auf der Achse von Gewissheit in Richtung Ignoranz, dem absoluten Nicht-Wissen, bewegt. Es gibt jedoch Ansätze, die sich sehr gut für den Umgang mit Unsicherheit in Abwesenheit von Daten oder Zahlen eignen. Diese können in Anlehnung an die Hard Tools des konventionellen Risikomanagements als Soft Tools bezeichnet werden. Lernfähigkeit, Kooperation, Visionen und Vertrauen spielen bei diesen Ansätzen eine wesentliche Rolle.
Transparenz über das Nicht-Wissen schaffen
Ein wichtiges Erfolgskriterium liegt – auch beim Management von ESG-Risiken – in der Methodenvielfalt. Werden verschiedene Methoden verwendet, sind die Chancen für einen insgesamt erfolgreichen Umgang höher. Alles auf eine methodische Karte zu setzen, kann angesichts der erheblichen Unsicherheiten fatale Folgen haben. Unternehmen sollten zudem vorausschauend denken und lernen, wie sie besser mit Überraschungen umgehen können. Strategien, die überwiegend auf Planung und Kontrolle abzielen, werden beim Umgang mit Ungewissheit an ihre Grenzen stoßen. Zudem müssen in Unternehmen Kompetenzen entwickelt werden, um mit Komplexität besser umgehen und so zum Beispiel die Limitierung von Modellen verstehen und annehmen zu können.
In der Praxis zeigt sich, dass Entscheidungsträger in Unternehmen häufig nicht an Konfidenzintervallen oder Fehlerbalken interessiert sind. Stattdessen wünschen sie sich eine Quantifizierung in Form einer Zahl als Modelloutput. Das Interesse daran, wie sicher diese Zahl ist, ist dagegen begrenzt. Besser ist es jedoch, transparent zu machen, was wir nicht wissen, was wir nicht verstehen, was durch Modelle abgebildet werden kann und was nicht.
Weg von „was man tut“, hin zu „wie man es tut“
Die Soft Tools beziehen sich nicht nur auf das, was man tut, sondern auch darauf, wie man es tut. Soft Tools zielen auf eine aktive Verbesserung der Risikokultur in Unternehmen und in der Gesellschaft: die Klärung und Zuweisung von Verantwortung in Entscheidungsprozessen, ehrliche und umfassende Kommunikation über Chancen und Risiken, und das systematische Lernen in Organisationen aus Fehlern.
Insbesondere in der Finanzindustrie und in der Aufsichtspraxis sind Stabilität und Planungssicherheit hohe Güter. Da sich jedoch die Welt stetig ändert, müssen Unternehmen und auch die Aufsicht auf diese Veränderungen reagieren können. Die Vorstellung, ein Rahmenwerk für ESG-Risiken zu entwickeln, welches die nächsten zehn bis 20 Jahre gültig ist, ist eine Illusion.
Ein Beispiel für lernende Organisationen ist die adaptive Regulierung. Ihre Strukturen und Prozesse erlauben es, Revisionen und Anpassungen an veränderte Rahmenbedingungen schnell zuzulassen. Die Praxistauglichkeit eines solchen Ansatzes zeigte sich beispielsweise bei der Regulierung der EU für Bio-Kraftstoffe. Sie wurde zwischen 2003 und 2018 sukzessive in mehreren Wellen redigiert, um Erfahrungen und Marktentwicklungen zu berücksichtigen.
Perspektivwechsel: Von der Quantität zur Qualität
Wie sich zeigt, gibt es Strategien, die geeignet sind, mit Ungewissheit und Unsicherheit umzugehen. Es braucht jedoch einen Perspektivwechsel: ESG-Risiken dürfen nicht wie hergebrachte Risiken mit dem Anspruch auf Quantifizierung behandelt werden. Dieser Fokus schränkt den Lösungsraum ein. Statt nur mehr von dem Gleichen braucht man auch andere Ansätze. Dazu zählt eine Aufwertung des qualitativen Risikomanagements. Auch wenn dies zunächst undankbar erscheint, da am Ende keine Zahl steht, die man abhaken kann. Stattdessen ist eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Ergebnis erforderlich.
Wichtig ist auch ein systematischer und konstruktiver Umgang mit Unsicherheit. Unsicherheit muss angenommen werden. Das bedeutet im Kern, Unsicherheit nicht wegzumodellieren oder irgendwie zu bearbeiten, um sich in der (Schein-)Sicherheit zu wiegen, sie im Griff zu haben. Für den konstruktiven Umgang existiert eine Vielfalt von geeigneten Strategien. Einige Beispiele sind in diesem Beitrag erwähnt1. Die Herausforderung liegt wie so häufig in der praktischen Umsetzung. Sie setzt voraus, dass Organisationen sich mit dem Thema aktiv auseinandersetzen und Wege ins methodische Neuland beschreiten, anstatt die bisherigen Strategien – wie messen, beschreiben und Berichte veröffentlichen – weiter zu verfolgen.
Fußnote:
- 1Weitere Strategien finden sich beispielsweise in den IRGC-Rahmenwerken zur Governance von Emerging Risk und systemischen Risiken.
Auf einen BlickSustainble-Finance-Konferenz
Der Umgang der Finanzindustrie mit ESG-Risiken war auch Thema auf der Sustainable-Finance-Konferenz der BaFin. Mehr zur Veranstaltung finden Sie hier.
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