Ursula von der Leyen
Ich bin hocherfreut, gemeinsam mit dem Kollegium der Kommissionsmitglieder anlässlich des Beginns der französischen Ratspräsidentschaft hier sein zu dürfen. Frankreich übernimmt dieses besondere Amt in einer sehr herausfordernden Situation: Die gesundheitliche Lage im Zusammenhang mit COVID-19 ist nach wie vor besorgniserregend. Aber wir konzentrieren unsere Maßnahmen auf die Impfstoffe. Dadurch konnten wir eine Durchimpfung von fast 70 % der Gesamtbevölkerung und fast 80 % aller Erwachsenen in Europa erreichen. Wir haben nicht nur 1,2 Milliarden Impfstoffdosen an die Europäerinnen und Europäer abgegeben, sondern parallel dazu 1,5 Milliarden Impfstoffdosen in mehr als 150 Länder exportiert oder geliefert. Darüber hinaus unterstützen wir die Wirtschaft massiv, insbesondere durch das mit 800 Mrd. EUR ausgestattete Konjunkturprogramm NextGenerationEU.
Dies lässt uns aber die anderen Probleme nicht vergessen. Wie Sie bereits erwähnt haben, Herr Präsident: Unsere Nachbarschaft ist von erheblichen Spannungen geprägt. Dies zeigt der militärische Druck Russlands auf die Ukraine und seine Einschüchterung der Republik Moldau. Ich freue mich daher, dass ein Land mit dem politischen Gewicht und der Erfahrung Frankreichs in einer so heiklen Zeit den Ratsvorsitz übernimmt. Denn die Stimme Frankreichs ist laut und trägt weit. Und Frankreich trägt Europa im Herzen.
Wir stehen vor großen Herausforderungen. Die erste ist natürlich das Klima. Die Kommission hat detaillierte und ambitionierte Vorschläge vorgelegt, um unser Ziel einer Verringerung der Treibhausgasemissionen um 55 % bis 2030 zu erreichen. Wir wollen dies auf wirtschaftlich effiziente und sozial gerechte Weise tun. Ich weiß, wie wichtig dieses Gleichgewicht Ihnen, Herr Präsident, ist, und wir teilen dieses Bestreben voll und ganz. Wir erwarten daher, dass der französische Ratsvorsitz diese Vorschläge voranbringt.
Zweitens die Digitalisierung. Unser gemeinsames Ziel ist es, Europa zu einer echten Digitalmacht in der Welt zu machen, die wir nach unseren eigenen Regeln und Werten gestalten. Wir haben im vergangenen Jahr ehrgeizige Vorschläge vorgelegt, und zwar unsere Gesetze über digitale Märkte und Dienstleistungen, um Innovationen zu fördern und gleichzeitig die großen Plattformen an ihre demokratische Verantwortung zu erinnern. Ich hoffe und bin sicher, dass der französische Ratsvorsitz diese Themen rasch voranbringen wird, denn wir wissen, dass sie für die europäischen Bürgerinnen und Bürger von zentraler Bedeutung sind.
Ganz allgemein müssen wir, wie Sie es gesagt haben, unser Modell weiter stärken nämlich das einer wettbewerbsfähigen und sozialen Wirtschaft. Wir arbeiten an einem neuen europäischen Wachstumsmodell, das natürlich durch den Grünen Deal, die Digitalisierung und die Resilienz im Einklang mit NextGenerationEU geprägt wird. Grundlage hierfür sind Exzellenz, Nachhaltigkeit und eine wettbewerbsfähige europäische Wirtschaft. Auch hier freue ich mich, dass sich unsere Prioritäten decken, wie bei unserer Initiative zur Entwicklung einer wettbewerbsfähigen Wasserstoffbranche, um die Ziele des europäischen Grünen Deals zu erreichen.
Schließlich möchte ich für dieses neue Wachstumsmodell den Vorschlag der Kommission von vor drei Wochen zur Besteuerung multinationaler Unternehmen erwähnen. Die Europäische Union ist eine der ersten, die diese historische Reform des Mindeststeuersatzes umgesetzt haben, wie von der OECD und den G20 vereinbart. Ich hoffe, dass wir während des französischen Ratsvorsitzes rasch zu einer Einigung gelangen werden, da diese Reform für ein gerechtes weltweites Wachstum notwendig ist.
Ein weiteres wichtiges Thema sind das Grenzmanagement und die Stärkung des Schengen-Raums, unseres Raums der Freizügigkeit. Verschiedene Krisen haben diesen Raum geschwächt, der jedoch im Mittelpunkt des europäischen Projekts steht. Wir wollen daher die Öffnung der Binnengrenzen der Europäischen Union wiederherstellen, erhalten und stärken. Zu diesem Zweck haben wir im Dezember entsprechende Reformvorschläge vorgelegt. Und ich hoffe, dass der französische Ratsvorsitz in der Lage sein wird, diesem Dossier die für Fortschritte nötige Dynamik verleihen kann. Dies umfasst natürlich auch die Stärkung des Managements der Außengrenzen, die Bekämpfung von Schleusernetzen und die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern. Deshalb würde ich mir auch rasche Fortschritte bei unserem Migrations- und Asylpakt wünschen, das genau diesen globalen Ansatz bietet.
Ferner stimmen wir darin überein, dass es einer echten Verteidigungsunion bedarf. Einer Verteidigungsunion, mit der wir auf künftige Bedrohungen vorbereitet sind. Zum Beispiel auf den nächsten hybriden Angriff, egal woher er kommt. Stimmen wir also unsere Prioritäten miteinander ab – dank unseres Strategischen Kompasses, der im Grunde eine Art Weißbuch zur Verteidigung darstellt. Und ich bin hocherfreut, dass sich der französische Ratsvorsitz diesem Thema besonders widmen will. Ich erwarte viel von der Diskussion über dieses Thema im Rahmen des Gipfeltreffens im März. Ich glaube, dass es höchste Zeit ist, dass Europa im Verteidigungsbereich schneller voranschreitet.
Schließlich möchte ich über unsere Beziehungen zu Afrika sprechen. Natürlich müssen wir vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie unsere Unterstützung für diesen Kontinent verstärken, sowohl bei den Impfstoffen als auch bei den wirtschaftlichen Folgen. Aber auch nach dieser Krise wird Afrika natürlich ein wichtiger Partner für die Zukunft unseres Kontinents sein, denn es ist ein geopolitischer, wirtschaftlicher und demografischer Raum, der in der Welt von morgen von entscheidender Bedeutung sein wird. Ich freue mich daher darauf, auf dem EU/Afrika-Gipfeltreffen im Februar in Brüssel über Wege zur Vertiefung unserer Partnerschaft zu diskutieren.
Dies ist ein ehrgeiziges Programm für die kommenden sechs Monate. Sie können dabei auf das Engagement der Kommission zählen, Herr Präsident. Und vielen Dank, dass Sie uns heute und hier empfangen haben.