Rede von Präsidentin von der Leyen vor dem Plenum des Europäischen Parlaments

04 Mai 2022
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Nächste Woche werden wir den Europatag begehen. Den 72. Geburtstag unserer Union. Bei diesem Europatag geht es um die Union der Zukunft – darum, wie wir sie stärker, krisenfester und bürgernäher machen. Aber die Antwort auf all diese Fragen können wir nicht allein geben. Die Antwort wird auch in der Ukraine gegeben. Sie wird in Charkiw gegeben, wo sich ukrainische Sanitäterinnen und Sanitäter in die Kampfzone wagen, um denen zu helfen, die bei russischen Angriffen verwundet wurden. Sie wird gegeben in Vororten wie Butscha, wo Überlebende die Gräueltaten russischer Soldaten an Zivilisten verkraften müssen. Und sie wird in Mariupol gegeben, wo sich Ukrainerinnen und Ukrainer gegen russische Truppen stemmen, die ihnen zahlenmäßig deutlich überlegen sind. Sie kämpfen für grundlegende Ideen: Dass sie Herr ihrer eigenen Zukunft sind – und nicht irgendein ausländischer Anführer. Dass das Völkerrecht maßgeblich ist, und nicht das Recht des Stärkeren. Und dass Putin einen hohen Preis für seinen brutalen Angriffskrieg zahlen muss.

Deshalb wird die Zukunft der Europäischen Union auch in der Ukraine entschieden. Und daher möchte ich heute über zwei Themen sprechen. Zum einen über Sanktionen und zum anderen über Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen. Heute legen wir das sechste Sanktionspaket vor. Erstens führen wir eine Liste mit hochrangigen Offizieren und anderen Einzelpersonen, die in Butscha Kriegsverbrechen begangen haben und die für die unmenschliche Belagerung der Stadt Mariupol verantwortlich sind. Somit erhalten alle Kriegsknechte des Kremls ein weiteres eindeutiges Signal: Wir wissen, wer Sie sind, und Sie werden zur Verantwortung gezogen. Zweitens koppeln wir die Sberbank — die mit Abstand größte russische Bank, und zwei weitere große Banken von SWIFT ab. Dadurch treffen wir Banken, die für das russische Finanzsystem relevant sind, und schränken Putins Fähigkeit zu weiteren Zerstörungen ein. Hierdurch wird die vollständige Isolierung des russischen Finanzsektors vom globalen System zementiert. Drittens streichen wir drei großen russischen Staatssendern unsere Sendefrequenzen. Die Zeiten, in denen sie ihre Inhalte EU-weit über Kabel, Satellit, das Internet oder über Smartphone-Apps verbreiten durften, sind endgültig vorbei. Als Sprachrohre Putins haben diese Fernsehkanäle seine Lügen und Propaganda erwiesenermaßen aggressiv verbreitet. Wir sollten ihnen keine Bühne zur Verbreitung dieser Lügen mehr bieten. Im Übrigen nutzt der Kreml die Dienste europäischer Wirtschaftsprüfer, Berater und Spin-Doktoren. Auch damit ist es jetzt vorbei. Solche Dienstleistungen dürfen nicht länger für russische Unternehmen erbracht werden.

Mein letzter Punkt zu den Sanktionen: Als die Staats- und Regierungsspitzen in Versailles zusammenkamen, einigten sie sich darauf, unabhängig von russischer Energie zu werden. Im letzten Sanktionspaket begannen wir mit Kohle. Jetzt geht es um unsere Unabhängigkeit von russischem Erdöl. Machen wir uns nichts vor: Das wird nicht einfach. Einige Mitgliedstaaten hängen erheblich von russischem Öl ab. Aber wir müssen daran arbeiten. Wir schlagen jetzt ein Embargo für russisches Öl vor. Dabei geht es um ein vollständiges Einfuhrverbot für sämtliches russisches Öl, ob Seeweg oder Pipeline, ob Rohöl oder raffiniert. Wir werden dafür sorgen, dass wir uns geordnet von russischem Öl verabschieden, also auf eine Art und Weise, die es uns und unseren Partnern ermöglicht, alternative Versorgungswege zu sichern und die Auswirkungen auf die globalen Märkte möglichst geringhält. Deshalb werden wir russische Rohöllieferungen innerhalb von sechs Monaten und raffinierte Erzeugnisse bis Ende des Jahres auslaufen lassen. Auf diese Weise maximieren wir den Druck auf Russland und halten gleichzeitig Kollateralschäden für uns und unsere Partner weltweit möglichst gering. Denn wenn wir der Ukraine helfen wollen, muss unsere eigene Wirtschaft stark bleiben.

All diese Schritte hindern Russland, seine Wirtschaft zu diversifizieren und zu modernisieren. Putin wollte die Ukraine von der Landkarte verschwinden lassen. Damit, das ist klar, wird er scheitern. Im Gegenteil: Die Ukraine leistet geschlossen Widerstand. Und es ist sein eigenes Land, Russland, das er in den Untergang führt.

Wir wollen, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Aber wir wollen auch die Eckpunkte für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg festlegen. Der erste Schritt ist Soforthilfe. Dabei geht es um kurzfristige Unterstützung der Wirtschaft, um die Menschen in der Ukraine bei der Bewältigung der Folgen des Krieges zu unterstützen – so wie wir es mit unserem Makrofinanzhilfepaket und der direkten Unterstützung des ukrainischen Staatshaushalts tun. Darüber hinaus haben wir kürzlich vorgeschlagen, alle Einfuhrzölle auf ukrainische Ausfuhren in unsere Union für ein Jahr auszusetzen. Ich bin sicher, dass das Europäische Parlament diese Idee unterstützen wird. Das reicht jedoch für die kurzzeitige Hilfe nicht aus. Allein in diesem Jahr dürfte das BIP der Ukraine um 30 % bis 50 % schrumpfen. Und nach Schätzungen des IWF braucht die Ukraine ab Mai monatlich 5 Mrd. EUR, um – schlicht und einfach – das Land am Laufen zu halten, um Pensionen, Gehälter und grundlegende Leistungen auszahlen zu können. Wir müssen sie dabei unterstützen, aber alleine schaffen wir das nicht. Daher ist es sehr erfreulich, dass die Vereinigten Staaten eine massive Finanzhilfe angekündigt haben. Und als Team Europa werden auch wir unseren Beitrag leisten.

Anschließend, in einer zweiten Phase, geht es schließlich um den umfangreichen Wiederaufbau. Das Ausmaß der Zerstörung ist enorm. Krankenhäuser und Schulen, Wohnhäuser, Straßen, Brücken, Schienenwege, Theater und Fabriken – das alles muss wieder aufgebaut werden. Mitten im Krieg ist eine genaue Schätzung schwierig. Wirtschaftsexperten sprechen von mehreren hundert Milliarden Euro. Und die Kosten steigen mit jedem Tag dieses sinnlosen Krieges.

Europa hat gegenüber der Ukraine eine ganz besondere Verantwortung. Mit unserer Unterstützung können die Menschen in der Ukraine ihr Land für die nächste Generation wiederaufbauen. Daher schlage ich Ihnen heute vor, dass wir mit der Arbeit an einem ehrgeizigen Konjunkturpaket für unsere ukrainischen Freunde beginnen. Dieses Paket sollte massive Investitionen zur Deckung des Bedarfs und für notwendige Reformen umfassen. Es sollte die bestehenden Schwächen der ukrainischen Wirtschaft angehen und die Grundlagen für ein nachhaltiges langfristiges Wachstum schaffen. Hierbei könnten Etappenziele und Meilensteine festgelegt werden, um sicherzustellen, dass das europäische Geld den Menschen in der Ukraine wirklich zugutekommt und gemäß den EU-Vorschriften ausgegeben wird. Die Hilfe kann zur Bekämpfung von Korruption beitragen, das rechtliche Umfeld an europäische Normen anpassen und die Produktionskapazität der Ukraine radikal steigern. Dies wird Stabilität und Sicherheit schaffen, damit die Ukraine für ausländische Direktinvestitionen attraktiv wird. Und zu guter Letzt wird das Paket den Weg der Ukraine innerhalb der Europäischen Union ebnen.

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