Die Kommission hat ihren vierten jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit veröffentlicht, in dem sie die Lage der Rechtsstaatlichkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten untersucht. Während in einigen EU-Mitgliedstaaten nach wie vor Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit bestehen, ist der Bericht zu einer wichtigen Triebkraft für Veränderungen und positive Reformen geworden. Faktisch wurde 65 % der letztjährigen Empfehlungen ganz oder teilweise nachgekommen. Dies zeigt, dass die Mitgliedstaaten erhebliche Anstrengungen unternehmen, um den Empfehlungen des Vorjahres nachzukommen. Da Reformen zur Verbesserung des Rahmens für die Rechtsstaatlichkeit Zeit in Anspruch nehmen, spiegelt dies eine erhebliche Entwicklung in nur einem Jahr wider. Gleichzeitig bestehen mit Blick auf einige Mitgliedstaaten nach wie vor systemische Bedenken. Der heute veröffentlichte Bericht umfasst eine Mitteilung über die Lage in der EU insgesamt sowie 27 Länderkapitel, in denen auf die wichtigsten Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedstaaten seit Juli 2022 eingegangen wird. Der Bericht enthält eine Bewertung der letztjährigen Empfehlungen und erneut spezifische Empfehlungen an die Mitgliedstaaten.
Der Bericht deckt vier Themenbereiche ab: nationale Justizsysteme, Rahmen für die Korruptionsbekämpfung, Medienpluralismus sowie sonstige institutionelle Fragen im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung.
Wesentliche Feststellungen und Empfehlungen
Justizreformen
Justizreformen standen im vergangenen Jahr weiterhin ganz oben auf der politischen Agenda, wobei viele Mitgliedstaaten die Empfehlungen von 2022 umgesetzt und im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität vereinbarte Reformen durchgeführt haben.
Viele Mitgliedstaaten sind bei wichtigen Reformen zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz vorangekommen oder haben diese abgeschlossen. Dazu gehören legislative Anstrengungen zur Stärkung der Unabhängigkeit und Wirksamkeit der Räte für das Justizwesen, eine Verbesserung der Verfahren zur Ernennung von Richterinnen und Richtern und der Funktionsweise der obersten Gerichte oder auch vorbereitende Schritte zur Stärkung der Autonomie der Staatsanwaltschaften.
Darüber hinaus haben die Mitgliedstaaten Maßnahmen eingeführt, um die Effizienz und Qualität der Justiz zu erhöhen und den Zugang zur Justiz zu erleichtern. Die Mitgliedstaaten investierten weiter in ihre Justizsysteme, obwohl in einigen Mitgliedstaaten die Vergütung von Richter*innen und Staatsanwält*innen Anlass zur Sorge gibt und zu Herausforderungen betreffend die Einstellung von qualifiziertem Justizpersonal geführt hat. Gleichzeitig bestehen im Zusammenhang mit einigen Mitgliedstaaten weiterhin strukturelle Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz.
Die Empfehlungen für 2023 zur Justiz befassen sich mit Herausforderungen wie der Notwendigkeit von Garantien bei Ernennungsverfahren für Richter/innen, der Zusammensetzung der Räte für das Justizwesen, der Autonomie der Staatsanwaltschaft oder der Notwendigkeit, angemessene Ressourcen für die Justiz bereitzustellen, wozu auch die Gehälter von Richter*innen und Staatsanwält*innen gehören.
Rahmen für die Korruptionsbekämpfung
Für die Bürger/innen und auch für die Unternehmen in der EU stellt Korruption nach wie vor ein ernstes Problem dar. Die Eurobarometer-Sonderumfrage 2023 über die Einstellung der Bürger/innen zur Korruption in der EU und das Flash-Eurobarometer über die Einstellung von Unternehmen zur Korruption in der EU zeigt beispielsweise, dass eine wachsende Mehrheit der Bürger/innen (70 %) und Unternehmen (65 %) der Ansicht ist, dass Korruption in ihrem Land weit verbreitet ist. Die Europäer/innen sind zunehmend skeptisch gegenüber den nationalen Bemühungen zur Bekämpfung der Korruption, wobei rund 67 % der Befragten der Ansicht sind, dass Korruptionsfälle auf hoher Ebene nicht ausreichend verfolgt werden.
Eine Reihe von Mitgliedstaaten hat Maßnahmen im Einklang mit den auf die Korruptionsbekämpfung bezogenen Empfehlungen des Berichts über die Rechtsstaatlichkeit 2022 ergriffen. Mehrere Mitgliedstaaten haben Strafrechtsreformen vorangebracht, um verstärkt gegen Korruption vorzugehen. Während einige Mitgliedstaaten weiterhin auf ihrer Erfolgsbilanz bei der Ermittlung, Verfolgung und Sanktionierung von Korruption auf hoher Ebene aufbauen, haben andere Mitgliedstaaten Maßnahmen ergriffen, um die Kapazitäten der für die Korruptionsbekämpfung zuständigen Strafverfolgungsbehörden durch zusätzliche Ressourcen und Spezialisierung zu stärken.
Zur Stärkung der Prävention haben mehrere Mitgliedstaaten bestehende Strategien und Aktionspläne zur Korruptionsbekämpfung aktualisiert oder sind dabei, diese zu überarbeiten. Andere Mitgliedstaaten haben Schritte unternommen, um Integritätsrahmen wie Verhaltenskodizes oder Lobbying-Vorschriften zu stärken. Die in diesem Jahr ausgesprochenen Empfehlungen beziehen sich auf die Stärkung der präventiven Rahmen, z. B. der Vorschriften über Lobbying und Interessenkonflikte, sowie auf die Gewährleistung der wirksamen Untersuchung und Verfolgung von Korruptionsfällen.
Öffentliche Bedienstete unterliegen in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten Pflichten zur Offenlegung von Vermögenswerten und Interessen; diese unterscheiden sich jedoch hinsichtlich des Umfangs, der Transparenz und der Zugänglichkeit der offengelegten Informationen sowie in Bezug auf Umfang und Wirksamkeit der Überprüfung und Durchsetzung. In einigen Mitgliedstaaten gestalten sich die Ermittlungen und die Strafverfolgung in Korruptionsfällen langwierig, und eine Erfolgsbilanz steht noch aus, insbesondere in Fällen auf hoher Ebene. Um eine kohärentere und wirksamere Reaktion auf Korruption in der gesamten Union zu gewährleisten, hat die Kommission im Mai 2023 neue Rechtsvorschriften zur Bekämpfung der Korruption auf EU-Ebene vorgeschlagen.
Freiheit und Pluralismus der Medien
Mehrere Mitgliedstaaten haben Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und der Arbeitsbedingungen von Journalistinnen und Journalisten verabschiedet, verstärkt oder erörtern, wobei sie auch auf jüngsten Initiativen der Kommission aufbauen, darunter die Empfehlung zur Gewährleistung des Schutzes, der Sicherheit und der Handlungskompetenz von Journalisten und anderen Medienschaffenden und die Empfehlung zum Schutz von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich öffentlich beteiligen, vor offenkundig unbegründeten oder missbräuchlichen Gerichtsverfahren. Seit dem letzten Bericht haben einige Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften erlassen, mit denen die Transparenz der Eigentumsverhältnisse im Medienbereich erhöht und Bestimmungen verschärft wurden, um die Unabhängigkeit ihrer Medienregulierungsbehörden zu stärken oder deren Zuständigkeitsbereich auszuweiten.
Verschiedene Bedenken bestehen nach wie vor hinsichtlich der mangelnden Transparenz bei der Vergabe staatlicher Werbeaufträge sowie mit Blick auf Interessenkonflikte und den Zugang zu öffentlichen Dokumenten. Dies sind einige der in dem Bericht hervorgehobenen wichtigen Themen, die größere Aufmerksamkeit erfordern. Während einige Mitgliedstaaten Reformen eingeleitet haben, um die Unabhängigkeit ihrer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu stärken, wurden in einigen anderen Mitgliedstaaten die diesbezüglichen Herausforderungen nach wie vor nicht angegangen.
Die auf die Medienfreiheit bezogenen Ergebnisse des Berichts stützen sich auf eine Reihe von Quellen, darunter der Überwachungsmechanismus für Medienpluralismus (MPM 2023), die Plattform des Europarates zur Förderung des Schutzes des Journalismus und der Sicherheit von Journalisten sowie die Plattform „Mapping Media Freedom“.
Die Kommission hat erneut eine Reihe von Empfehlungen abgegeben, die unter anderem auf die transparente und gerechte Vergabe staatlicher Werbeaufträge, eine unabhängige Verwaltung der öffentlich-rechtlichen Medien und Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit von Journalistinnen und Journalisten sowie das Recht auf Zugang zu öffentlichen Dokumenten abstellen. Die Kommission hat im September 2022 das Medienfreiheitsgesetz vorgeschlagen, über das derzeit verhandelt wird, um auf EU-Ebene Garantien zum Schutz des Medienpluralismus und der redaktionellen Unabhängigkeit zu verankern.
Institutionelle Gewaltenteilung
Die Mitgliedstaaten haben die Qualität ihrer Gesetzgebungsverfahren weiter verbessert und weiterhin Interessenträger in diese Prozesse einbezogen – ein Trend, der in früheren Berichten über die Rechtsstaatlichkeit festgestellt wurde. Die Verfassungsgerichte spielen im System der Gewaltenteilung nach wie vor eine zentrale Rolle und haben auch wichtige Entscheidungen über die Organisation der nationalen Justizsysteme getroffen. Der Status von nationalen Menschenrechtsinstitutionen, Bürgerbeauftragten und anderen unabhängigen Behörden wurde in einigen Mitgliedstaaten weiter gestärkt. In den meisten Mitgliedstaaten gibt es ein günstiges und unterstützendes Umfeld für die Zivilgesellschaft, und einige von ihnen ergreifen weitere unterstützende Maßnahmen.
In einigen Mitgliedstaaten besteht jedoch nach wie vor kein formeller Rahmen für die Konsultation der Interessenträger, oder er wird in der Praxis nicht hinreichend befolgt, und Organisationen der Zivilgesellschaft sowie Menschenrechtsverteidiger/innen stehen weiterhin vor Herausforderungen wie Finanzierungsproblemen und Einschränkungen ihres Handlungsspielraums. In mehreren Mitgliedstaaten wurden Bedenken hinsichtlich der fortgesetzten Inanspruchnahme von Notstandsbefugnissen geäußert.
Der Bericht enthält erneut Informationen darüber, wie die Mitgliedstaaten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umsetzen. Außerdem werden darin die Reaktionen im Rahmen der Systeme von Kontrolle und Gegenkontrolle der Mitgliedstaaten auf die Verwendung von Spähsoftware untersucht.
Um einige dieser Herausforderungen anzugehen, hat die Kommission Empfehlungen wiederholt, denen teilweise oder gar nicht nachgekommen wurde, und gegebenenfalls neue Empfehlungen abgegeben. Diese betreffen beispielsweise die wirksame Einbeziehung der Interessenträger in den Gesetzgebungsprozess, die Einrichtung und Arbeitsweise akkreditierter nationaler Menschenrechtsinstitutionen und die Gewährleistung eines offenen Handlungsrahmens für die Zivilgesellschaft.
Die Kommission ersucht nun das Europäische Parlament und den Rat, die allgemeinen und länderspezifischen Gespräche auf der Grundlage dieses Berichts fortzusetzen und dabei auch auf die Empfehlungen zurückzugreifen, um die konkrete Umsetzung weiter zu prüfen. Sie fordert ferner die nationalen Parlamente, die Zivilgesellschaft sowie andere wichtige Interessenträger und Akteure auf, den Dialog über die Rechtsstaatlichkeit auf nationaler wie europäischer Ebene mit einem verstärkten Engagement der Bürgerinnen und Bürger fortzusetzen. Überdies fordert die Kommission die Mitgliedstaaten auf, den in dem Bericht ermittelten Herausforderungen wirksam zu begegnen, und ist bereit, die Mitgliedstaaten bei der fortgesetzten Umsetzung der Empfehlungen zu unterstützen.
Hintergrund
Die Rechtsstaatlichkeit ist für alle Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in der EU von entscheidender Bedeutung, da sie eine Voraussetzung für die Achtung anderer Werte ist. Sie garantiert die Achtung der Grundrechte im Einklang mit den demokratischen Grundwerten, ermöglicht die Anwendung des EU-Rechts und fördert ein investitionsfreundliches Unternehmensumfeld. Sie ist fester Bestandteil der Identität der Europäischen Union.
Der jährliche Bericht über die Rechtsstaatlichkeit beruht auf einem intensiven Dialog mit den nationalen Behörden und Interessenträgern und beleuchtet alle Mitgliedstaaten auf der Grundlage derselben objektiven und transparenten Methode, wobei in jedem Land identische Sachverhalte geprüft werden. Die von der Kommission vorgenommene qualitative Bewertung bezieht sich insbesondere auf die wichtigsten Entwicklungen seit Annahme des dritten Berichts über die Rechtsstaatlichkeit im Juli 2022, wobei den jeweiligen Entwicklungen angemessen Rechnung getragen wird.
Der Bericht steht im Mittelpunkt des jährlichen Zyklus der Rechtsstaatlichkeit. Dieser präventive jährlichen Zyklus dient der Förderung der Rechtsstaatlichkeit und der Vorbeugung der Entstehung bzw. Verschärfung von Problemen. Er steht gesondert von den übrigen Bestandteilen des EU-Instrumentariums zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit und ergänzt die im Vertrag verankerten Mechanismen, mit denen die EU auf schwerwiegendere rechtsstaatliche Probleme in den Mitgliedstaaten reagieren kann, ohne diese zu ersetzen. Zu diesen Instrumenten gehören Vertragsverletzungsverfahren und das Verfahren zum Schutz der Grundwerte der Union nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union.
Die vierte Ausgabe des Berichts baut auf dem wichtigen Schritt im letztjährigen Bericht auf, wonach erstmals spezifische Empfehlungen für alle Mitgliedstaaten enthalten waren. Die Analyse enthält auch eine qualitative Bewertung der Fortschritte, die die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Empfehlungen für 2022 erzielt haben, wobei der Gesamtkontext in den Mitgliedstaaten berücksichtigt wird. Je nach den Fortschritten, die in den einzelnen Teilbereichen der jeweiligen Empfehlung erzielt wurden, schloss die Kommission ihre Bewertung in jedem einzelnen Fall ab und stützte sich dabei auf folgende Kategorien, um die Entwicklungen zu verfolgen: keine Fortschritte, einige Fortschritte, erhebliche Fortschritte und vollständige Umsetzung.
Die Empfehlungen für 2023 stützen sich entweder auf die Empfehlungen des Vorjahres, wenn diese nicht oder nur teilweise umgesetzt wurden, oder sind neuen Herausforderungen gewidmet. Sie wurden auf der Grundlage der Bewertung in den Länderkapiteln und des Dialogs mit den Mitgliedstaaten sowie unter uneingeschränkter Achtung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ausgearbeitet. Bei den Empfehlungen hat die Kommission sorgfältig darauf geachtet, dass sie zielgerichtet und in europäischen Normen verankert bleiben, und sie hat dabei die nationalen Rechtssysteme berücksichtigt. Darüber hinaus werden Kohärenz und Synergien mit anderen Prozessen wie dem Europäischen Semester, der Konditionalitätsregelung für den Haushalt und der Aufbau- und Resilienzfazilität sichergestellt. In den künftigen Ausgaben des Berichts über die Rechtsstaatlichkeit werden auch weiterhin die Folgemaßnahmen zu den Empfehlungen untersucht. Die Empfehlungen sollten zusammen mit den Bewertungen in den Länderkapiteln gelesen werden, in denen besondere Bedenken geprüft werden, und sie sollen den Mitgliedstaaten als Orientierungshilfe bei der Ergreifung von Abhilfemaßnahmen dienen.
Die in den früheren Berichten über die Rechtsstaatlichkeit ermittelten Herausforderungen dienten im vergangenen Jahr als Inspiration für mehrere aktuelle EU-Initiativen, darunter der Vorschlag für ein Europäisches Medienfreiheitsgesetz und das Paket zur Korruptionsbekämpfung.