Die Europäische Kommission hat maßgeschneiderte Regelungen vorgeschlagen, um auf die Schwierigkeiten zu reagieren, mit denen die Menschen in Nordirland aufgrund des Brexits konfrontiert sind. So soll die Beförderung von Waren von Großbritannien nach Nordirland weiter erleichtert werden. Vorangegangen waren ausführliche Gespräche mit der Regierung des Vereinigten Königreichs in den vergangenen Monaten sowie Kontakte der Europäischen Kommission mit führenden Politikern, Unternehmen, der Zivilgesellschaft und anderen Interessenträgern in Nordirland. Die Kommission macht auch Vorschläge zu Punkten, auf die in dem im Juli 2021 veröffentlichten Kabinettsbeschluss des Vereinigten Königreichs hingewiesen wurde. Die Kommission ist nun bereit, intensive Gespräche mit der Regierung des Vereinigten Königreichs aufzunehmen, um so bald wie möglich zu einer einvernehmlichen dauerhaften Lösung zu gelangen. Sie wird sich dabei eng mit dem Europäischen Parlament und dem Rat abstimmen.
Vizepräsident Maroš Šefčovič sagte in diesem Zusammenhang: „Ich habe den nordirischen Interessenträgern Gehör geschenkt und bin auf ihre Belange eingegangen. Mit den heutigen Vorschlägen reagieren wir bestmöglich auf ihre Bedenken. Wir haben intensiv an ihnen gearbeitet, mit dem Ziel, vor Ort einen spürbaren Wandel herbeizuführen und auf die von der Bevölkerung und von Unternehmen in Nordirland geäußerten Bedenken einzugehen. Wir freuen uns auf eine ernsthafte und intensive Zusammenarbeit mit der Regierung des Vereinigten Königreichs im Interesse aller Gemeinschaften in Nordirland.“
Die Kommission ist überzeugt, dass dieses Maßnahmenpaket vor Ort in Nordirland für spürbare Verbesserungen sorgen und die brexitbedingten Probleme beim Warentransport von Großbritannien nach Nordirland, auf die von der Bevölkerung und von Unternehmen in Nordirland hingewiesen wurde, lösen wird. Diese Maßnahmen ergänzen das im Juni 2021 vorgelegte Paket, das die Verbringung lebender Tiere von Großbritannien nach Nordirland erleichtert.
Mit dem heute vorgelegten Paket werden weitere Flexibilitätsregelungen in den Bereichen Lebensmittel, Pflanzen- und Tiergesundheit, Zölle, Arzneimittel und Einbeziehung von nordirischen Interessenträgern vorgeschlagen. Die Kommission schlägt ein anderes Modell für die Durchführung des Protokolls vor, mit dem der Warenfluss zwischen Großbritannien und Nordirland in Bezug auf Waren, die in Nordirland verbleiben sollen, erheblich erleichtert würde. Diese Erleichterung wird durch eine Reihe von Schutzmaßnahmen und eine verstärkte Marktüberwachung ermöglicht, um sicherzustellen, dass die Waren nicht in den EU-Binnenmarkt gelangen.
Mit diesem Paket wird der Weg für eine Lösung aller noch offenen Umsetzungsfragen geebnet, wodurch Vorhersehbarkeit, Stabilität und Sicherheit für Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in Nordirland geschaffen werden.
Lösungen in vier Schlüsselbereichen
Das Kollegium der Kommissionsmitglieder hat heute vier „Non-Papers“ (d. h. nichtlegislative Texte) genehmigt, die folgende Bereiche abdecken:
- Eine maßgeschneiderte Lösung für Nordirland in Bezug auf Lebensmittel, Pflanzen- und Tiergesundheit („gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Fragen“), die zu einer Verringerung der Kontrollen um etwa 80 % führen würde
– Diese Lösung würde zu einem spezifischen Ansatz für Nordirland im Bereich der öffentlichen Gesundheit, der Pflanzen- und der Tiergesundheit führen. In der Praxis bedeutet dies eine deutlich vereinfachte Zertifizierung und eine erhebliche Verringerung (um ca. 80 %) der amtlichen Kontrollen für ein breites Spektrum von Einzelhandelswaren, die aus Großbritannien zum Verbrauch nach Nordirland verbracht werden. Diese Maßnahmen ergänzen die Lösungsvorschläge der EU vom 30. Juni, mit denen der Transport lebender Tiere von Großbritannien nach Nordirland erleichtert werden soll.
Um die Integrität des Binnenmarkts zu schützen, wären sie an eine Reihe von Bedingungen und Sicherheitsvorkehrungen geknüpft. So sollte etwa das Vereinigte Königreich seiner Verpflichtung nachkommen, den Bau dauerhafter Grenzkontrollstellen abzuschließen, und es wären spezifische Verpackungen und Etiketten erforderlich, aus denen hervorgeht, dass betroffene Waren nur im Vereinigten Königreich verkauft werden dürfen, sowie ferner eine verstärkte Überwachung der Lieferketten. Darüber hinaus würden die Schutzmaßnahmen einen Mechanismus zur raschen Reaktion auf festgestellte Probleme im Zusammenhang mit einzelnen Produkten oder Händlern sowie einseitige Maßnahmen der EU umfassen für den Fall, dass die zuständigen Behörden des Vereinigten Königreichs oder der betroffene Händler nicht auf ein festgestelltes Problem reagieren oder ein solches Problem beheben. Diese besonderen Bedingungen und Garantien würden einen robusten Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismus bieten, der eine erhebliche Verringerung der Zahl der Kontrollen ermöglichen würde, ohne die Integrität des Binnenmarkts zu gefährden.
2. Flexible Zollformalitäten zur Erleichterung des Warentransports von Großbritannien nach Nordirland – Verringerung des Verwaltungsaufwands um -50 %
Diese Lösung besteht aus Maßnahmen zur Vereinfachung und Erleichterung von Zollformalitäten und -verfahren. Dadurch würde sich der Umfang der Unterlagen, die derzeit für die Beförderung von Waren von Großbritannien nach Nordirland benötigt werden, halbieren. Auch hier gelten Schutzmaßnahmen. So sollte sich beispielsweise das Vereinigte Königreich verpflichten, einen vollständigen Echtzeitzugang zu IT-Systemen zu gewähren. Ferner sind eine Überprüfungs- und Beendigungsklausel vorgesehen, und die Zoll- und Marktüberwachungsbehörden des Vereinigten Königreichs müssten geeignete Überwachungs- und Durchsetzungsmaßnahmen umsetzen.
Zusammengenommen würden die maßgeschneiderten Lösungen sowohl für die Gesundheits- und Pflanzenschutz- als auch für die Zollvorschriften eine Art „Überholspur“ für den Warenverkehr von Großbritannien nach Nordirland schaffen und gleichzeitig einen robusten Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismus zum Schutz der Integrität des Binnenmarkts bieten.
3. Verstärkte Zusammenarbeit mit nordirischen Interessenträgern und Behörden
Diese Vorschläge zielen darauf ab, den Informationsaustausch mit Interessenträgern und Behörden in Nordirland im Hinblick auf die Umsetzung des Protokolls und einschlägiger EU-Maßnahmen zu verbessern. Dies würde die Anwendung des Protokolls transparenter machen und gleichzeitig die verfassungsmäßige Ordnung des Vereinigten Königreichs wahren. Vorgesehen ist die Einrichtung eines strukturierten Dialogs zwischen nordirischen Interessenträgern (Behörden, Zivilgesellschaft und Unternehmen) und der Kommission. Dies würde die Schaffung strukturierter Gruppen unter Beteiligung von Sachverständigen umfassen, um einschlägige EU-Maßnahmen zu erörtern, die für die Umsetzung des Protokolls von Bedeutung sind. Auch nordirische Interessenträger würden zu einigen Sitzungen der Sonderausschüsse eingeladen werden. Es ist auch vorgesehen, eine engere Verbindung zwischen der nordirischen Versammlung und der Parlamentarischen Partnerschaftsversammlung EU-Vereinigtes Königreich zu schaffen. Außerdem wird eine Website eingerichtet, auf der die in Nordirland geltenden EU-Rechtsvorschriften klar und umfassend dargestellt werden.
4. Langfristige ununterbrochene Sicherheit von Arzneimittellieferungen von Großbritannien nach Nordirland
Dieser Vorschlag würde dazu führen, dass Pharmaunternehmen in Großbritannien – wenn sie den nordirischen Markt beliefern – all ihre Regulierungsfunktionen dort beibehalten können, wo sie derzeit ansässig sind. Dies bedeutet beispielsweise, dass Großbritannien weiterhin als Drehscheibe für die Versorgung Nordirlands mit Generika fungieren kann, obwohl es nun ein Drittland ist. Dadurch kann die langfristige Belieferung Nordirlands mit Arzneimitteln aus Großbritannien sichergestellt werden. Die Kommission wird weitere Gespräche mit dem Vereinigten Königreich und Interessenträgern führen, bevor sie ihren Vorschlag zur Änderung bestehender Vorschriften fertigstellt. Dieser Vorschlag setzt voraus, dass die EU ihre eigenen Arzneimittelvorschriften ändert.
Nächste Schritte
Die Kommission und die Regierung des Vereinigten Königreichs standen in den vergangenen Monaten in ständigem Kontakt. Nach der heutigen Sitzung des Kommissionskollegiums werden Sachverständige der Kommission nach London reisen, um in detaillierte Diskussionen mit der britischen Regierung über diese vier „Non-Papers“ einzutreten. Dies wird der Beginn einer Phase intensiver Gespräche mit der Regierung des Vereinigten Königreichs in den kommenden Wochen sein. Vizepräsident Šefčovič wird am Freitag in Brüssel Lord Frost treffen.
Die Kommission wird auch weiterhin mit Interessenträgern in Nordirland zusammenarbeiten.
Hintergrund
Das Protokoll zu Irland und Nordirland wurde als integraler Bestandteil des Austrittsabkommens von der EU und dem Vereinigten Königreich gemeinsam beschlossen und ratifiziert. Es ist seit dem 1. Februar 2020 in Kraft und hat völkerrechtliche Rechtswirkung. Ziel des Protokolls ist es, sämtliche Dimensionen des Karfreitagsabkommens sowie Frieden und Stabilität zu wahren, eine harte Grenze auf der irischen Insel zu vermeiden und die Integrität des EU-Binnenmarkts zu wahren. Damit dies erreicht und der Weg für neue Möglichkeiten geebnet werden kann, muss das Protokoll vollständig umgesetzt werden.
Die EU hat sich im Gemeinsamen Ausschuss kontinuierlich in gutem Glauben darum bemüht, pragmatische Lösungen zu finden, um die durch den Brexit verursachten Störungen so gering wie möglich zu halten und den Alltag der Menschen in Nordirland zu erleichtern. Zehn Monate nach der Umsetzung des Protokolls und ausgehend von ausführlichen Gesprächen mit der Regierung des Vereinigten Königreichs und Interessenträgern in Nordirland sind die Kernprobleme bei der Umsetzung des Protokolls klar. Das heute von der Kommission vorgeschlagene Paket zielt darauf ab, diese Probleme im Interesse der Stabilität und Vorhersehbarkeit auf der irischen Insel dauerhaft anzugehen.