Kerstin Yoo
Eine BaFin-Untersuchung zeigt: Hersteller von Finanzprodukten und Vertriebsunternehmen kommen ihren Product Governance-Pflichten nicht immer ausreichend nach. Mängel gibt es unter anderem in der Kosten-Gebühren-Struktur, die zu den potenziellen Anlegern passen muss. Finanzprodukte müssen nach den Regeln der Product Governance (siehe Infokasten) verantwortungsvoll produziert und vertrieben werden. Aber wie sieht es in der Realität aus? Halten sich Anbieter an die Vorschriften und informieren, beraten und schützen sie ihre Kundinnen und Kunden bestmöglich? Im Rahmen einer internationalen Marktuntersuchung der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) hat die BaFin im vergangenen Jahr untersucht (siehe Infokasten), wie 14 beaufsichtigte Institute die Vorgaben aus dem Product Governance-Regime umsetzen.
Dies erfolgte bei: vier Wertpapierinstituten; sechs Privat- und Auslandsbanken; vier Sparkassen- und Genossenschaftsbanken. Wie haben die Institute ihre Finanzprodukte auf dem deutschen Markt entwickelt und vertrieben? Das Ergebnis: Es gibt teilweise deutliches Verbesserungspotenzial.
Die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) führt seit 2019 jährlich Marktuntersuchungen (Common Supervisory Action – CSA) durch, an denen sich die BaFin regelmäßig beteiligt. Ziel ist ein Gleichlauf in der Umsetzung verschiedener europäischer Vorgaben – etwa der Anlegerschutzvorschriften der Regeln der Finanzmarktrichtlinie (Markets in Financial Instruments Directive – MiFID). In Deutschland sind diese Regeln im Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) umgesetzt.
BaFin-Untersuchung
Im vergangenen Jahr untersuchte die BaFin bei 14 Instituten die Umsetzung der Product Governance-Vorgaben – und dabei speziell, wie sie in der Praxis konkret gehandhabt werden. Von den untersuchten Instituten sind zwei nur Hersteller von Finanzprodukten, sieben nur Vertriebsunternehmen und fünf beides. Hersteller schaffen, entwickeln, begeben oder gestalten Finanzprodukte neu. Vertriebsunternehmen verkaufen, vertreiben, empfehlen, vermarkten sie oder bieten sie an.
Zielmarktbestimmung und Proportionalität
Hersteller von Finanzprodukten und Vertriebsunternehmen, etwa Banken und Wertpapierinstitute, müssen für jedes Finanzinstrument bestimmen, für welche potenziellen Anlegerinnen und Anleger sie es erstellt haben bzw. an wen sie es vertreiben wollen. Diesen Zielmarkt müssen sie umso detaillierter definieren, je komplexer ein Produkt ist. Umgekehrt gilt: Sind die Produkte weniger komplex, kann die Zielmarktbestimmung entsprechend weniger detailliert ausfallen. So besagt es das Proportionalitätsprinzip.
Vor allem bei der Zielmarktbestimmung und der Umsetzung des Proportionalitätsprinzips zeigt sich Verbesserungspotenzial. Sowohl Hersteller als auch Vertriebsunternehmen kommen ihren Product Governance-Pflichten in diesen beiden Punkten nicht immer ausreichend nach.
Hersteller müssen nicht nur den Zielmarkt ihrer Produkte bestimmen, sie müssen auch gewährleisten, dass die Kosten- und Gebührenstruktur eines Produkts zu den potenziellen Anlegern passt. In einigen Fällen ist auch das nicht genügend geschehen.
Hersteller von Finanzprodukten
Wenn Hersteller ihre Produkte auf den Kreis potenzieller Anleger zuschneiden, müssen sie dies anhand bestimmter Merkmale tun. Beispielsweise müssen sie sich hinsichtlich eines konkreten Produkts fragen:
Über welche Kenntnisse und Erfahrungen mit Finanzprodukten sollen die potenziellen Anlegerinnen und Anleger, die dieses Produkt erwerben möchten, verfügen? Welche etwaigen Verluste sollten sie tragen können?
Auf Basis der Antworten darauf werden die Merkmale definiert, um für diese Kundinnen und Kunden das passende Produkt zu erstellen. So zielt ein Produkt mit kurzer Laufzeit und vielschichtigen Produkteigenschaften auf Anleger mit spezifischen Markterwartungen ab, die bereits Erfahrungen in der Wertpapieranlage haben. Nicht zum Zielmarkt eines solchen Produkts zählen dagegen unerfahrene Anleger und solche mit dem Wunsch nach langfristigem Aufbau von Vermögen. Ein Produkt mit kurzer Laufzeit und vielschichtigen Produkteigenschaften zielt daher regelmäßig auf einen kleineren, spezielleren Zielkundenkreis ab als Standardprodukte, die auch Plain-Vanilla-Produkte genannt werden. Häufig fallen Anleihen und Optionen in diese Kategorie.
Je komplexer ein Produkt ist, desto umfangreicher und tiefgreifender müssen die einzelnen Merkmale der potenziellen Zielkunden gestaltet werden. Wenn ein Produkt beispielsweise die Rückzahlung des Anlagebetrags von der Entwicklung des Kursverlaufs einer Aktie oder eines anderen Basisprodukts abhängig macht, muss genau bestimmt werden, ob das Produkt auch für Privatkunden geeignet ist und welche Erfahrungen und Kenntnisse diese benötigen, um das Produkt zu verstehen und eine fundierte Entscheidung treffen zu können. Darauf hatte die BaFin bei einer Untersuchung hingewiesen, die mit der Einführung der europäischen Finanzmarktrichtlinie MiFID II zusammenhing (siehe BaFinJournal Februar 2019).
Proportionale Zielmarktbestimmung
Innerhalb der BaFin-Marktuntersuchung gab ein Teil der untersuchten Hersteller an, bei der Festlegung des Zielmarkts nicht zwischen komplexeren und weniger komplexen Finanzprodukten zu unterscheiden. Die Gründe hierfür sind verschieden: Zwei von sieben Herstellern bestimmen den Zielmarkt bei allen Finanzprodukten auf identische Weise. Drei andere legen den potenziellen Anlegerkreis zwar unterschiedlich fest, richten sich dabei aber nicht nach der Produktkomplexität.
Bestimmung von Kosten und Gebühren
Auch die Kosten- und Gebührenstruktur eines Finanzprodukts muss zu den potenziellen Zielkunden passen. So müssen Hersteller beachten, dass für Finanzprodukte mit hohen Einstiegskosten keine Anleger in Frage kommen, die eine kurzfristige Anlage anstreben. Für sie würden sich wegen der kurzen Anlagedauer die Kosten nicht amortisieren. Grundsätzlich dürfen die Kosten die zu erwartende Rendite auch nicht aufzehren, was die Hersteller entsprechend berechnen bzw. bewerten müssen, wenn sie den Zielkundenkreis festlegen. Die Untersuchung der BaFin hat ergeben, dass drei von sieben Herstellern lediglich Kostenobergrenzen für ihre Produkte festlegen. So können sie jedoch nicht sicherstellen, dass ein Produkt mit Blick auf Kosten und Gebühren hinreichend differenziert für den Zielkundenkreis ausgestaltet wird.
Vertriebsunternehmen
Auch die vertreibenden Institute müssen für die Produkte Zielkunden bestimmen, indem sie den vom Hersteller festgelegten Zielmarkt überprüfen und gegebenenfalls konkretisieren. Während die Hersteller den Kreis potenzieller Anleger auf abstrakter Ebene festlegen, analysieren Vertriebsunternehmen ihren konkreten Kundenstamm und definieren den vom Hersteller festgelegten Anlegerkreis, wenn dies erforderlich ist, noch enger.
Bestimmung des konkreten Zielmarkts: exakt und proportional
In der Regel konkretisieren die Vertriebsunternehmen den Zielmarkt für das Produkt, nachdem sie die abstrakte Zielmarktbestimmung vom Hersteller erhalten haben. Es ist jedoch grundsätzlich zulässig, dass Hersteller und Vertriebsunternehmen den Kreis potenzieller Anleger gemeinsam bestimmen. Auch in diesen Fällen bleibt das Vertriebsunternehmen in der Verantwortung, den Zielmarkt zu prüfen und – falls erforderlich – zu konkretisieren. Die Untersuchung der BaFin zeigt jedoch, dass vier von zwölf Vertriebsunternehmen den vom Hersteller festgelegten Zielmarkt ungeprüft übernehmen und keinen eigenen konkreten Zielmarkt bestimmen. Ein ähnliches Ergebnis zeigte sich bereits bei einer Untersuchung der BaFin zum Vertrieb von Zertifikaten aus dem Jahr 2020 (siehe BaFinJournal November 2020): Schon damals haben die meisten untersuchten Vertriebsunternehmen den festgelegten Zielmarkt unreflektiert eins zu eins übernommen.
Die BaFin hatte daraufhin Auslegungsfragen und Antworten veröffentlicht, um mit Konkretisierungen der Product Governance-Vorgaben den Verbraucherschutz weiter zu stärken. In ihrer aktuellen Untersuchung wollte die BaFin daher auch klären, ob die damals beschriebenen Mängel noch existieren. Das Ergebnis zeigt, dass sich die Institute mit dem früheren Befund zwar grundsätzlich, aber nicht flächendeckend auseinandergesetzt haben. Schließlich muss auch das Vertriebsunternehmen dem Prinzip der Proportionalität gerecht werden, wenn es den konkreten Zielmarkt festlegt. Das heißt: Je komplexer das vertriebene Produkt ist, desto detailliertere Merkmale muss das Vertriebsunternehmen für die Festlegung des konkreten Zielkundenkreises zugrunde legen. Allerdings gaben lediglich drei von zwölf Vertriebsunternehmen in der Untersuchung an, den Zielmarkt für komplexere Finanzprodukte so detailliert zu bestimmen, wie es die Aufsicht erwartet.
Gemeinsamer Mindeststandard für besseren Informationsaustausch
Seit 2017 hat sich in Deutschland ein freiwilliger „Gemeinsamer Mindeststandard zur Zielmarktbestimmung“ etabliert – ins Leben gerufen von der Deutschen Kreditwirtschaft (DK), dem Bundesverband Investment und Asset Management (BVI) und dem Deutschen Derivate Verband (DDV). Auf europäischer Ebene existiert eine ähnliche Initiative: FinDatEx. Diese stellt Standardisierungen für europäische Marktteilnehmer bereit, um den Austausch von Informationen zu vereinfachen.
Der Mindeststandard unterstützt die Hersteller und Vertriebsunternehmen durch einheitliche Zielmarktkriterien und -merkmale und verbessert den Informationsaustausch zwischen beiden Parteien. Damit leistet die Industrie einen wichtigen Beitrag dazu, die Produktvielfalt zu erhalten. Denn nur bei standardisierten Zielmarktkriterien und -merkmalen vertreiben Institute auch Fremdprodukte, so dass Kunden über ihre Vertriebsunternehmen Zugang zu einer breiteren Produktpalette erhalten. Andererseits darf die Standardisierung nicht dazu führen, dass die Zielmarktbestimmung weniger aussagekräftig ist und Hersteller sowie Vertriebsunternehmen weniger verantwortungsbewusst mit individuellen Produktmerkmalen umgehen. Was dabei nicht außer Acht geraten darf: Selbst, wenn ein Standard von Herstellern und Vertriebsunternehmen genutzt wird, bleibt es dabei: Die Vertriebsunternehmen sind verantwortlich dafür, den konkreten Zielmarkt festzulegen. Auch ihre Sorgfaltspflichten reduzieren sich dadurch nicht. Alle zuvor beschriebenen aufsichtsrechtlichen Verpflichtungen bleiben unberührt.
Weitere Schritte
Die BaFin führte ihre Untersuchung innerhalb einer internationalen Marktuntersuchung der ESMA durch. Die auf europäischer Ebene festgestellten Ergebnisse wurden im Juli 2022 veröffentlicht und zeigen, dass auch in anderen europäischen Ländern Verbesserungspotenzial bei der Umsetzung der Product Governance-Vorgaben besteht. Die ESMA ergänzt derzeit ihre Leitlinien zur Product Governance für Europa. Die Ergänzungen betreffen zwar in erster Linie Sustainable-Finance-Aspekte. Allerdings werden die Erkenntnisse der Marktuntersuchung aus dem letzten Jahr in die bis zum 7. Oktober 2022 zur Konsultation stehenden Leitlinien einfließen – und daher voraussichtlich zu Verschärfungen einiger Vorgaben zur Bestimmung des Zielmarkts führen. Die Institute, die bei der Untersuchung der BaFin aufgefallen sind, fordert die Aufsicht auf, die Versäumnisse abzustellen. Darüber hinaus wird die BaFin auch künftig die Entwicklung des Product Governance-Regimes und dessen Umsetzung im Markt beobachten. Das gilt auch für die besagten ESMA-Leitlinien.
Product Governance für mehr Verbraucherschutz
Der Begriff Product Governance steht – in Anlehnung an den Begriff der Corporate Governance, den Grundsätzen der Unternehmensführung – für einen verantwortungsvollen und nachhaltigen Herstellungs- und Vertriebsprozess von Finanzprodukten. Dieser orientiert sich weniger am Ziel der Gewinnmaximierung des Unternehmens, sondern vor allem am Kundeninteresse. Potenzielle Anlegerinnen und Anleger sollen schon bei der Entwicklung von Finanzprodukten definiert werden, damit die Produkte zu ihnen passen bzw. für sie hergestellt werden. Auch muss die Kosten- und Gebührenstruktur des Produkts zum möglichen Anlegerkreis passen. Für die Praxis bedeutet das, dass unterschiedliche, mitunter sehr komplexe Finanzprodukte nicht für professionelle Kunden und Privatanleger gleichermaßen angeboten werden.
Das Product Governance-Regime wirkt auf den „gesamten Lebenszyklus“ des Produktes ein. Sowohl Produkthersteller als auch Vertriebsunternehmen haben dabei diverse Pflichten – beispielsweise müssen beide einen Zielmarkt bestimmen, um Produkte zu erstellen und zu vertreiben. Zudem müssen Hersteller und Vertreiber das Produkt laufend überwachen und sich umfassend austauschen.