Neu rechnen, bitte!

12 Juli 2024
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Von Dr. Hannah Wesker, BaFin-Versicherungsaufsicht

Die Zinsen sind seit 2022 deutlich angestiegen. Insbesondere deshalb bildet das aktuelle Rückstellungstransitional die Solvenzsituation der Lebensversicherer nicht mehr angemessen ab. Die BaFin gestaltet es daher künftig dynamischer.

Die BaFin hat die Lebensversicherer aufgefordert, das Rückstellungstransitional neu zu berechnen. Damit will die Finanzaufsicht die Unternehmen auch anspornen, die Anforderungen unter Solvency II so schnell wie möglich zu erfüllen. Das Rückstellungstransitional sollte Versicherern insbesondere aufgrund der außergewöhnlich niedrigen Zinsen den Übergang auf Solvency II erleichtern. Im aktuellen Zinsumfeld ist seine Höhe nicht mehr angemessen. Es kann sogar zu Fehlanreizen kommen.

Bei seiner Einführung 2016 bedeutete Solvency II einen Paradigmenwechsel für die Versicherungsbranche. Unter dem neuen Aufsichtsregime waren Vermögenswerte und Verbindlichkeiten fortan, soweit möglich, zu Marktwerten zu bewerten. Das führte in der Niedrigzinsphase der vergangenen Jahre insbesondere für die deutschen Lebensversicherer mit ihren langfristigen Garantien oft zu deutlich strengeren Kapitalanforderungen.

Um die Unternehmen beim Übergang auf das neue Aufsichtsregime zu unterstützen, hat der Gesetzgeber daher eine Übergangsmaßnahme für versicherungstechnische Rückstellungen eingeführt, das Rückstellungstransitional. Das Rückstellungstransitional erlaubt den Unternehmen, zeitweise Erleichterungen zur Erfüllung der Kapitalanforderungen unter Solvency II zu nutzen (siehe Kasten „Auf einen Blick“). Es reduziert die versicherungstechnischen Rückstellungen unter Solvency II und erhöht somit die Eigenmittel. Der entsprechende Abzugsbetrag wurde im Jahr 2016 durch die Unternehmen erstmals berechnet. Diese schreiben ihn seitdem jedes Jahr planmäßig ab – bis zum Ende des Übergangszeitraums im Jahr 2032.

Auf einen Blick:Übergangsmaßnahmen unter Solvency II

Bei der Einführung von Solvency II wurden im Kontext langfristiger Garantien wie in der deutschen Lebensversicherung Übergangsmaßnahmen beschlossen, die den Unternehmen den Übergang von Solvency I nach Solvency II erleichtern sollten. Eine dieser Maßnahmen – das Rückstellungstransitional – definiert einen Abzugsbetrag, der temporär die versicherungstechnischen Rückstellungen unter Solvency II vermindert und somit die verfügbaren Eigenmittel erhöht.

Das Rückstellungstransitional wurde zur Einführung von Solvency II auf Basis der Daten zum 1. Januar 2016 berechnet. Der Abzugsbetrag entsprach hierbei bei der Einführung von Solvency II im Jahr 2016 der Differenz zwischen den Solvency-I- und den Solvency-II-Rückstellungen. In der Folge verblieb dieser Abzugsbetrag grundsätzlich konstant. Das heißt die Differenz zwischen den Solvency-I- und Solvency-II-Rückstellungen wurde grundsätzlich nicht neu berechnet. Entwicklungen im Bestand und Änderungen des Kapitalmarktes wurden also nicht berücksichtigt.

Um den Übergang auf Solvency II sicherzustellen, erfolgt lediglich eine lineare Abschreibung dieses Abzugsbetrags über 16 Jahre bis zum Jahr 2032. Im Jahr 2024 ist in diesem Sinne „Halbzeit“.

Der starke Anstieg der Zinsen seit 2022 hat bei den deutschen Lebensversicherern im Allgemeinen zu einem deutlichen Rückgang der versicherungstechnischen Rückstellungen unter Solvency II geführt – und somit zu einem Anstieg der Eigenmittel. Auch die Solvenzkapitalanforderungen sanken durch den Zinsanstieg. Die durchschnittlichen Bedeckungsquoten stiegen daher 2022 und 2023 sehr stark an.

Zum Jahresende 2023 lagen die versicherungstechnischen Rückstellungen gemäß Solvency II im Allgemeinen unter denen gemäß Solvency I. Und das bedeutet: Die zur Erleichterung des Übergangs eingeführte künstliche Absenkung der versicherungstechnischen Rückstellungen durch das Rückstellungstransitional ist in der aktuellen Höhe nicht mehr erforderlich. Derzeit kann sie sogar falsche Anreize setzen. Denn die Übergangsmaßnahmen sollten zwar Marktstörungen verhindern – sie sollten die Unternehmen aber auch dazu anhalten, den neuen Anforderungen unter Solvency II so schnell wie möglich nachzukommen.

Mit der angeordneten Neuberechnung adressiert die Finanzaufsicht dieses Problem. Durch die Neuberechnung wird das Rückstellungstransitional an die aktuellen Bedingungen angepasst. Derzeit nimmt es bei den meisten Lebensversicherern den Wert null an. In anderen Worten: Die Übergangsmaßnahme entfaltet bei diesen Unternehmen keine Wirkung mehr. Sie bleibt aber grundsätzlich in Kraft.

Rückstellungstransitional wird dynamischer

Bei den Lebensversicherungsunternehmen, die das Rückstellungstransitional anwenden, führt die Neuberechnung dementsprechend zu niedrigeren Bedeckungsquoten. Insgesamt sind die deutschen Lebensversicherer mittlerweile jedoch auch ohne Übergangsmaßnahmen ausreichend bedeckt.

Grundsätzlich können Versicherer den Betrag des Rückstellungstransitionals alle 24 Monate neu berechnen, etwa um die zwischenzeitliche Entwicklung ihres Versicherungsbestands genauer zu berücksichtigen. Und auch bei einer signifikanten Änderung ihres Risikoprofils dürfen die Unternehmen neu rechnen. Dies kann sowohl auf Antrag der betroffenen Unternehmen als auch auf Anordnung der BaFin erfolgen. Die BaFin hatte auf eine solche Anordnung bisher verzichtet. Gründe waren die Belastungen der Niedrigzinsphase sowie der Aufbau der Zinszusatzreserve, mit der die Versicherer ihre Rückstellungen gemäß dem Handelsgesetzbuch (HGB) schrittweise an das niedrige Zinsniveau angepasst haben.

Diese Aspekte haben mittlerweile an Bedeutung verloren. Daher soll das Rückstellungstransitional zukünftig dynamisch ausgestaltet werden – der Abzugsbetrag, das heißt die Differenz zwischen Solvency-I- und Solvency-II-Rückstellungen, soll zukünftig bei Bedarf neu berechnet werden. Als ersten Schritt hat die BaFin daher zum zweiten Quartal 2024 erstmals angeordnet, dass die Unternehmen den Abzugsbetrag neu berechnen müssen.

Ziel: Solvency-II-Anforderungen stabil ohne Übergangsmaßnahmen erfüllen

Trotz aller Maßnahmen des Kapitalanlage- und Risikomanagements zeigen die Bedeckungsquoten unter Solvency II typischerweise eine gewisse Volatilität – insbesondere, wenn langfristige Garantien in den Beständen vorhanden sind. Starke Bewegungen am Kapitalmarkt können beispielsweise dazu führen, dass die Anforderungen unter Solvency II wieder ansteigen, eventuell sogar stark. In diesen Fällen können Unternehmen auch weiterhin eine Neuberechnung des Rückstellungstransitionals beantragen, so dass dieses wieder einen positiven Wert annehmen kann. Der Übergangszeitraum von insgesamt 16 Jahren bleibt also erhalten.

Gleichzeitig gilt jedoch weiterhin: Die Unternehmen müssen Maßnahmen ergreifen, um die Kapitalanforderungen so bald wie möglich und dauerhaft, also auch in stürmischen Zeiten, zu erfüllen. Und zwar ohne künstliche Anpassungen. Darauf müssen sie insbesondere auch ihr Kapitalanlage- und Risikomanagement abstellen.

Quelle : BaFinJournal

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