Die Europäische Kommission hat heute wegen der neuen Disziplinarregelung für Richter ein Aufforderungsschreiben an Polen gerichtet und damit ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Die polnische Regierung hat nun 2 Monate Zeit, um zu reagieren. Die neue Disziplinarregelung beeinträchtigt die richterliche Unabhängigkeit der polnischen Richter, da sie nicht die vom Gerichtshof der Europäischen Union verlangten Garantien bietet, die notwendig sind, um sie vor politischer Kontrolle zu schützen. Erstens ist die Kommission der Auffassung, dass Polen seinen Verpflichtungen aus Artikel 19 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union in Verbindung mit Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht nachgekommen ist, in denen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht verankert ist.
Das polnische Gesetz ermöglicht es, Richter an ordentlichen Gerichten wegen des Inhalts ihrer richterlichen Entscheidungen disziplinarrechtlichen Ermittlungen, Verfahren und letztlich Sanktionen zu unterwerfen. Die neue Disziplinarregelung gewährleistet auch nicht die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts, die die in Disziplinarverfahren gegen Richter erlassenen Entscheidungen überprüft. Diese Disziplinarkammer besteht ausschließlich aus neuen Richtern, die vom Landesrat für Gerichtswesen ausgewählt wurden, dessen richterliche Mitglieder nun vom polnischen Parlament (Sejm) ernannt werden.
Ferner stellt die neue Disziplinarregelung nicht sicher, dass in Disziplinarverfahren gegen Richter an ordentlichen Gerichten in erster Instanz ein „durch Gesetz errichtetes“ Gericht entscheidet, da sie den Präsidenten der Disziplinarkammer ermächtigt, das für eine konkrete Disziplinarsache zuständige Disziplinargericht erster Instanz ad hoc und nach fast freiem Ermessen zu bestimmen. Zudem beschränkt die neue Disziplinarregelung für Richter die Verfahrensrechte der Beklagten in Disziplinarverfahren. Die neue Regelung gewährleistet nicht mehr, dass Disziplinarsachen innerhalb einer angemessenen Frist bearbeitet werden, was dem Justizminister und dem Präsidenten der Republik die Möglichkeit verschafft, durch die von ihnen ernannten Disziplinarbeauftragten Beschuldigungen gegen Richter dauerhaft in der Schwebe zu halten. Die neue Regelung beeinträchtigt auch die Verteidigungsrechte der Richter.
Außerdem ist Polen nach Auffassung der Kommission seinen Verpflichtungen aus Artikel 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nicht nachgekommen, in dem das Recht der Gerichte verankert ist, den Europäischen Gerichtshof um Vorabentscheidungen zu ersuchen. Wie die Entwicklungen in Polen zeigen, ermöglicht es die neue Disziplinarregelung, dass gegen Richter wegen des Inhalts ihrer richterlichen Entscheidungen Disziplinarverfahren eingeleitet werden. Dies gilt auch für die Entscheidung, dem Gerichtshof Fragen vorzulegen. Da die Richter nicht davor geschützt sind, dass wegen der Ausübung dieses in Artikel 267 AEUV verankerten Rechts disziplinarrechtliche Sanktionen gegen sie verhängt werden, beeinträchtigt die neue Regelung die Nutzung dieses Mechanismus. Das Vorabentscheidungsverfahren – Rückgrat der Rechtsordnung der Union – kann nur funktionieren, wenn es den nationalen Gerichten in jeder Phase des Verfahrens freisteht, dem Europäischen Gerichtshof jede Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, die sie für erforderlich halten.
Die polnische Regierung hat nun 2 Monate Zeit, auf das Aufforderungsschreiben zu antworten.
Hintergrund
Die Rechtsstaatlichkeit ist einer der gemeinsamen Werte, auf die sich die Europäische Union gründet und die sich alle Mitgliedstaaten zu eigen gemacht haben. Als solcher ist sie in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union verankert. Sie ist zudem von wesentlicher Bedeutung für das Funktionieren der EU als Ganzes (also beispielsweise für den Binnenmarkt und die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres) und für die Sicherstellung, dass mitgliedstaatliche Richter, die ja zugleich auch „EU-Richter“ sind, ihrer Aufgabe nachkommen können, die Anwendung des EU-Rechts zu gewährleisten, und im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren ordnungsgemäß mit dem Gerichtshof der EU zusammenarbeiten können. Nach den Verträgen ist die Europäische Kommission zusammen mit den anderen Organen und den Mitgliedstaaten dafür zuständig, die Rechtsstaatlichkeit als einen Grundwert der Union zu garantieren und für die Achtung des Rechts, der Werte und der Grundsätze der EU zu sorgen.
Die Ereignisse in Polen haben die Europäische Kommission veranlasst, im Januar 2016 auf der Grundlage des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips einen Dialog mit der polnischen Regierung aufzunehmen. Das Verfahren basiert auf einem kontinuierlichen Dialog zwischen der Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat. Die Kommission informiert das Europäische Parlament und den Rat in regelmäßigen Abständen.
Da auf Basis des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips keine Fortschritte erzielt wurden, setzte die Kommission am 20. Dezember 2017 erstmals das Verfahren nach Artikel 7 Absatz 1 in Gang und legte einen begründeten Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch Polen vor. Es fanden bereits mehrere Debatten (26. Mai und 16. Oktober) sowie drei Anhörungen der Mitgliedstaaten zur Rechtsstaatlichkeit in Polen im Rat (Allgemeine Angelegenheiten) statt (26. Juni, 18. September und 11. Dezember).
Des Weiteren leitete die Kommission am 2. Juli 2018 wegen des polnischen Gesetzes über das Oberste Gericht, insbesondere wegen seiner Bestimmungen über die Pensionierung und ihrer Auswirkungen auf die Unabhängigkeit des Obersten Gerichts, ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Am 24. September 2018 erhob die Kommission in dieser Sache Klage vor dem Gerichtshof der EU. Am 17. Dezember 2018 erließ der Gerichtshof eine rechtskräftige einstweilige Anordnung, um die Umsetzung des polnischen Gesetzes über das Oberste Gericht zu unterbinden.
Am 29. Juli 2017 leitete die Kommission wegen des polnischen Gesetzes über die ordentlichen Gerichte, insbesondere wegen seiner Bestimmungen über die Pensionierung und ihrer Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Justiz, ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Am 20. Dezember 2017 erhob die Kommission in dieser Sache Klage vor dem Gerichtshof der EU.