Dass die Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie MiFID II verschoben wird, ist beschlossene Sache – diesen Eindruck durften die rund 300 Besucher des 9. MiFID-Kongresses der Börse Stuttgart am 19. November 2015 gewinnen. Die Referenten auf dem Kongress waren sich nämlich überraschend einig, als es daran ging, den aktuellen Stand der Vorbereitungen zu beurteilen.
Sowohl die europäische Aufsichtsbehörde ESMA als auch „und insbesondere“ die Europäische Kommission hätten den zugesagten Zeitplan nicht einhalten können, erklärte Keynote-Speaker Markus Ferber (CSU), Berichterstatter des EU-Parlaments für die Überarbeitung der Finanzmarktrichtlinie. „Leider sind wir bei der Ausarbeitung der technischen Standards und der delegierten Rechtsakte noch nicht so weit, wie wir uns das selbst wünschen“, so Ferber. Ähnlich äußerte sich Verena Ross, Exekutivdirektorin der ESMA und damit unmittelbar mit der Erarbeitung der technischen Standards und delegierten Rechtsakte befasst: „Der Zeitplan war sehr ambitioniert. Es war extrem komplex, einige der Themen bis ins Detail durchzuarbeiten. Im Endeffekt haben wir drei Monate zusätzlich gebraucht.“
Wie weit die Anwendung des neuen Regulierungsrahmens für die Finanzmärkte verschoben werde und ob auch eine teilweise Umsetzung zum ursprünglich geplanten Termin denkbar ist, sei allerdings noch offen, so EU-Parlamentarier Ferber weiter: „Bisher gab es lediglich einen informellen Vorschlag der Kommission in einer Anhörung im Parlament, der die Verschiebung des Inkrafttretens um ein Jahr vorsieht.“ Ferber selbst würde allerdings eine flexiblere Lösung bevorzugen. Er habe der Kommission gegenüber den Vorschlag gemacht, das Inkrafttreten abhängig vom Veröffentlichungsdatum im Amtsblatt zu machen. „Das wurde im ersten Gespräch auf Arbeitsebene zunächst einmal zurückgewiesen“, erklärte der Experte. „Ich gehe allerdings nicht davon aus, dass die Diskussion damit bereits abgeschlossen ist.
Drück für die ausführenden EU-Behörden
Wie hoch der Druck für die ausführenden EU-Behörden trotz der möglichen Verschiebung des Umsetzungstermins nach wie vor ist, machte Aufsichtsvertreterin Ross nochmals deutlich: „Im Endeffekt ist die Komplexität vieler Punkte erst zum Ende hin klar geworden. Es zeigt sich, dass auch der Abschluss der Rechtsakte noch in einigen Bereichen kontrovers sein wird.“ Sie selbst halte eine Verschiebung daher vor allem bei Themen wie der Einführung von Positionslimits für Warenderivate oder neuen Transparenzpflichten im Handel mit Wertpapieren für sinnvoll. In der Tat zeigte sich in der an Ross‘ Vortrag anschließenden Podiumsdiskussion, dass insbesondere diese beiden Themenkomplexe Konfliktpotenzial bergen.
So wies etwa Dr. Norbert Kuhn, Leiter Unternehmensfinanzierung des Deutschen Aktieninstituts (DAI), darauf hin, dass bisher nicht einmal geklärt sei, welche Verträge künftig als Warentermingeschäfte definiert werden sollen. „Das muss aber klar sein, um anschließend Positionslimits bestimmen zu können“, so Kuhn. „Noch ist sogar denkbar, dass ganz normale Beschaffungsverträge, die von Konzerngesellschaften auf Termin abgeschlossen werden, in die Positionslimits einfließen müssten.“ Markus Ferber hatte auch für dieses Problem einen pragmatischen Lösungsansatz parat: „Ich diskutiere aktuell mit der ESMA darüber, ob wirklich zum Einführungstag ein Positionslimit für alle Warenderivate bestehen muss. Ich denke, wir sollten hier nicht mit der Sense über den gesamten Rasen gehen, sondern erst einmal schauen, welche Pflänzchen in Ruhe gedeihen dürfen.“
Gegen das Rasenmäherprinzip sprach sich auch Dr. Günter Birnbaum, Abteilungspräsident Bereich Wertpapieraufsicht/Assetmanagement der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) aus: „Wir müssen stark darauf achten, dass die Besonderheiten des deutschen Marktes berücksichtigt werden.“ Deutschland habe den größten Zertifikatemarkt in Europa. Die Regulierung dürfe in diesen Markt nicht unverhältnismäßig stark eingreifen.
Einen anderen grundlegenden Punkt brachte Dr. Christoph Boschan von dem Bussche, Geschäftsführer der Börse Stuttgart auf: die nur vermeintlich verbesserte Gleichstellung regulierter und unregulierter Handelsplätze im Rahmen der neuen Richtlinie. „Hier konnte MiFID II keine Lösung herbeiführen, denn keiner will freiwillig ein regulierter Handelsplatz werden. Warum auch, wenn er das gleiche Geschäft auch mit geringerem Aufwand betreiben kann?“, fragte er – und legte nach: „Meiner Ansicht nach liefert MiFID II eine sehr unvollständige Antwort auf diese Frage, weil es weiterhin Free Riding auf Kosten öffentlicher Börsenplätze zulässt.“
Dass MiFID II trotz aller Komplexität längst nicht alle Lücken in der Finanzmarktregulierung schließen dürfte, machte auch der Vortrag von Professor Martin Weber deutlich. Der Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim berichtete über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse – und wünscht sich, dass diese auch in die Regulierung der Anlageberatung einbezogen werden. So hätten Studien gezeigt, dass Anleger das Risiko von Aktienanlagen überschätzten, wenn ihnen lediglich Statistiken dazu vorgelegt würden. Zeige man ihnen dagegen Simulationen von Marktentwicklungen und mache diese dadurch erlebbar, dann könnten Anleger das Risiko realistischer einschätzen – und verlören einen Teil ihrer Scheu vor dem Aktienkauf. Webers Fazit: „Daraus können wir wirklich etwas lernen für die praktische Beratung – und zwar entweder, wie Kunden in die falsche Richtung gelenkt werden können, oder wie wir Kunden erziehen zu besserer Erkenntnis. So kann die Wissenschaft dazu beitragen, die Regulierung zu verbessern.“
Quelle: Boerse Stuttgart GmbH