Mark Branson
Wir leben in einer Zeit der Gegensätze. Viele Unternehmen des Finanzsystems verdienen gut, manche sogar sehr gut. Zugleich ist die Unsicherheit hoch: Es bestehen große geopolitische Risiken, unsere Wirtschaft wandelt sich, wird nachhaltiger und digitaler. Das sorgt für viel Gesprächsstoff zwischen Aufsicht und Finanzbranche. In einem Punkt sind sich aber fast alle einig: Wir müssen für Europa als Ganzes denken. Wenn wir nicht europäisch handeln, wird Europa wirtschaftlich wahrscheinlich der Verlierer dieser schwierigen Phase sein. Wie gut wir als Europa abschneiden, hängt auch davon ab, wie sich unser Finanzsystem entwickelt. Der aktuelle Befund ist gemischt: Die Bankenunion ist noch immer nicht vollendet und kann ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen. Der Kapitalmarkt in Europa ist fragmentiert und ineffizient. Wir haben nicht einen Markt, wir haben 27 Märkte. Wir brauchen einen einheitlicheren und effizienteren Kapitalmarkt, damit die milliardenschweren Investitionen in die grüne und digitale Transformation der europäischen Volkswirtschaft leichter finanziert werden können.
Aber auch ein einheitlicheres europäisches Finanzsystem wird auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn es zugleich stabil und integer ist. Und wenn alle Marktteilnehmer darauf vertrauen können, dass das so ist. Regulierung und Aufsicht spielen dabei eine Schlüsselrolle. Weil das so ist, müssen jetzt in Europa die Weichen für die Finanzmarktregulierung und -aufsicht der Zukunft gestellt werden. Dabei sind drei Punkte entscheidend:
*Die Kalibrierung der Finanzregulierung darf nicht abgeschwächt werden.
*Wir brauchen stattdessen weniger Komplexität in der Regulierung und mehr Proportionalität.
*Und wir brauchen europaweite Aufsichtskonvergenz mit gleich hohen Qualitätsstandards.
Zu meinem ersten Punkt: Wenn wir jetzt die Weichen für die europäische Regulierung der Zukunft stellen wollen, sollten wir einen Fehler auf keinen Fall machen: das Rad zurückdrehen. Es wäre keine gute Idee, zum Beispiel, die Solvenzanforderungen aus Basel III und Solvency II aufzuweichen. Denn damit würden wir ausgerechnet den Teil der Regulierung schwächen, der uns in letzter Zeit geholfen hat, die Funktionsfähigkeit und Stabilität unseres Finanzsystems zu sichern. Nein, in der Kalibrierung unserer Regulierung dürfen wir keine Abstriche machen. Ich werde an der Stelle so deutlich, weil genau das in der aktuellen Debatte immer häufiger vorgeschlagen wird. Dabei haben wir in der Vergangenheit gesehen, wohin diese Art der Deregulierung führt: in die nächste Finanzkrise.
Statt Abstriche in der Kalibrierung zu machen, sollten wir eher prüfen, ob wir noch die eine oder andere Schwäche in der Regulierung korrigieren. Zum Beispiel, indem wir die richtigen Lehren aus den Turbulenzen von 2023 ziehen. Mit dem Finanzsystem ist es nämlich ähnlich wie im Straßenverkehr: Damit alle sicher ans Ziel kommen, brauchen wir an manchen gefährlichen Stellen ein strenges Tempolimit, sonst kommt es zum Crash. Und das bringt mich zu meinem zweiten Punkt.Wir sollten immer zwischen der Kalibrierung und der Komplexität von Regulierung unterscheiden. Das Tempolimit ist eine einfache, verständliche und wirksame Regelung. Vor allem wenn es durchgesetzt wird.
Wenn aber der Schilderwald im Straßenverkehr immer dichter und unübersichtlicher wird, geht die Orientierung verloren. Deswegen durchforsten einige deutsche Städte wie Wiesbaden regelmäßig ihren Schilderwald, und prüfen, welche Schilder noch nötig sind. Überflüssige Verkehrszeichen entfernen sie. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Denn unübersichtliche Regulierung verfehlt ihr Ziel. Auch im Finanzwesen. Deswegen sollten wir die Komplexität in der Regulierung reduzieren, ohne die Kalibrierung zurückzudrehen.
Ein aktuelles Beispiel: MiCAR, die europäische Regulierung von Kryptowerten. Kein Zweifel: Wir brauchen MiCAR und das nationale Umsetzungsgesetz zu MiCAR. Aber brauchen wir auch die 52 europäischen Rechtsakte, mit denen MiCAR konkretisiert werden soll? Schon der Entwurf dieser Rechtsakte bindet viele Ressourcen. Allein bei der BaFin arbeiten derzeit 25 Personen in Drafting Teams oder Komittees daran. 30 weitere Expertinnen und Experten sind zeitweise eingebunden. Ginge es nicht einfacher? Pragmatischer?
Ein weiteres Beispiel für eine neue Regulierung, die extrem komplex ist: Die verschiedenen Regelwerke rund um das Thema Nachhaltigkeit. Sie sollen für mehr Transparenz und Klarheit sorgen. Und dafür, dass die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten steigt. Die Umsetzung dieser Regelwerke ist enorm aufwändig. Die Wirkung auf die Nachfrage? Begrenzt. Der Verkauf von nachhaltigen Produkten stagniert.
Was müssen wir tun?
Wir sollten Regelwerke systematisch vereinfachen, entschlacken und von Überlappungen befreien. Gerade bei neuen Regulierungsprojekten wie denen zur Nachhaltigkeit haben wir gute Chancen, die Komplexität deutlich zu reduzieren. Hier sind wir in der Praxis noch nicht so eingefahren und können die Regelungen leichter hinterfragen. Das sollten wir übrigens auch bei der Regulierung made in Germany tun. Wir haben in Deutschland die Tendenz, zusätzliche Komplexität zu schaffen. Gut gemeint ist nicht in jedem Fall gut gemacht. Einige unserer spezifischen deutschen Lösungen brauchen wir eigentlich nicht – oder nicht mehr.
Wir haben in den vergangenen Monaten ein paar Dutzend Gesetzesstellen ausgemacht, die der deutsche Gesetzgeber entschlacken könnte. Und zwar, ohne die Wirksamkeit der Regulierung zu schwächen. Die Effekte wären zum Teil kleiner, zum Teil größer. Aber es ließe sich auf jeden Fall unnötiger Aufwand vermeiden: bei den Finanzinstituten, bei der Aufsicht – oder bei beiden.
Wir bei der BaFin müssen uns aber auch selbst den Spiegel vorhalten. Wir regulieren eher wenig. BaFin-Regelungen sind nur das Sahnehäubchen auf der großen Regulierungstorte. Aber sie machen das Ganze nicht immer verdaulicher. Wir können unsere Aufsichtspraxis prägnanter zu Papier bringen. Wir können unsere Prozesse weiter verschlanken. Und das alles, ohne das Sicherheitsniveau zu senken. Mit 14 unserer 69 Jahresziele für 2024 wollen wir genau das erreichen: den bürokratischen Aufwand reduzieren oder Prozesse beschleunigen.
Wir müssen auch deshalb die Komplexität der Regulierung reduzieren, weil sie diskriminierend wirkt. Sie erschwert jungen Unternehmen den Markteintritt. Und sie belastet generell kleine Unternehmen besonders stark. Etablierte, große Unternehmen können komplexe Regelwerke noch am ehesten verkraften.Wir brauchen daher auch mehr Proportionalität in der Regulierung. One-size-fits-all gibt es hier eben gerade nicht. Wir könnten einige Anforderungen an kleinere Unternehmen deutlich reduzieren – zumindest für die, die besonders sicher und stabil sind. Ich denke da zum Beispiel an Meldepflichten und die Berechnung komplexer Risikoindikatoren.
Andere Länder, wie die Schweiz, haben gezeigt, dass das funktionieren kann. Großbritannien geht mit dem „Strong-and-Simple-Regime“ auch diesen Weg: Warum sollte so etwas in der Europäischen Union nicht funktionieren?
Weniger Komplexität bedeutet aber auch, nicht mehr alles bis ins letzte Detail auszubuchstabieren. An den Stellen, an denen wir keine streng regelbasierte Regulierung brauchen, eine prinzipienbasierte Regulierung zu wählen. Wird Regulierung in Form von Prinzipien formuliert, kann die Aufsicht flexibler agieren. Sie kann dann schneller auf neue Entwicklungen und Risiken reagieren. Weil sie mehr Ermessensspielraum hat. Das wiederum kann nur dann funktionieren, wenn wir europaweit das gleiche Verständnis davon haben, wie wir dieses Ermessen ausüben, wie wir also Regelwerke umsetzen. Wir brauchen ein aufsichtliches Level-Playing-Field – und kein race to the bottom.
Aufsichtsbehörden dürfen sich keinen Standortwettbewerb liefern, indem sie Unternehmen mit besonders toleranter Aufsicht locken. Ich denke da zum Beispiel an Unternehmen mit einem digitalen Geschäftsmodell, die kaum persönlichen Kontakt zu ihren Kundinnen und Kunden haben. Sie haben leicht skalierbare Geschäftsmodelle und können Produkte einfach über Grenzen hinweg vertreiben. Es ist ein Leichtes für sie, Unterschiede in der Anwendung der EU-Regulierung auszunutzen. Das schadet der Integrität des europäischen Finanzsystems.
Wir brauchen einheitlich hohe Qualitätstandards in der Aufsicht. Das bedeutet auch, dass die europäischen Aufsichtsbehörden EBA , EIOPA und ESMA stärker eingreifen sollten. Was das bedeuten kann, haben wir selber schon erlebt: Die europäische Versicherungsaufsicht EIOPA hat im vergangenen Jahr 18 Behörden schlechte Noten in der Wohlverhaltensaufsicht gegeben. Eine von den 18 waren wir. An dem Thema arbeiten wir jetzt hart und wir haben auch schon gute Fortschritte gemacht. Von denen profitieren schon jetzt viele Kundinnen und Kunden. Die europäischen Aufsichtsbehörden sollten uns nationale Aufsichtsbehörden noch öfter und hartnäckiger auf Defizite hinweisen. Das wäre für uns alle hilfreich. Und sie sollten härter eingreifen können, wenn die Integrität des europäischen Finanzplatzes in Gefahr ist, zum Beispiel beim Passporting.
Das Passporting ist eine große Errungenschaft für den europäischen Markt. Aber es bringt auch Verpflichtungen mit sich. Wenn diese Pflichten nicht eingehalten werden, sollten die europäischen Aufsichtsbehörden eingreifen können. Es muss als ultima ratio möglich sein, den grenzüberschreitenden Vertrieb von Produkten oder Dienstleistungen zu beschränken, wenn Gefahr im Verzug ist. Wäre eine weitere Zentralisierung der Finanzsaufsicht auf europäischer Ebene die Lösung für unsere Konvergenzprobleme? Darüber wird im Moment viel gesprochen. Wir müssen uns klarmachen, dass eine weitere Europäisierung der Finanzaufsicht die Märkte nicht per se tiefer, liquider und effizienter macht. Wir scheitern hier bislang eher an den unterschiedlichen Marktstrukturen und Rechtsrahmen.
Aber Zentralisierung kann sinnvoll sein. Nämlich – und nur – dann, wenn Aufgaben auf EU-Ebene effektiver und effizienter erledigt werden können. Mehrwert bringt eine zentrale europäische prudentielle Aufsicht bei systemrelevanten Unternehmen, die in mehreren Ländern aktiv und stark vernetzt sind. Ein Beispiel ist die europäische Bankenaufsicht, bei der die bedeutenden Institute direkt von der EZB beaufsichtigt werden. Deswegen könnten wir auch bei Clearinghäusern über eine zentrale EU-Aufsicht nachdenken. Sie sind das Sicherheitsnetz der Märkte: Sie übernehmen das Ausfallrisiko vor allem von Derivate-Geschäften. Aber sie sind zu riesigen Playern geworden. Fällt ein Clearinghaus aus, beispielsweise durch eine Cyber-Attacke, stehen Milliarden im Feuer. Eine zentrale Aufsicht kann für solche Institute die richtige Lösung sein, auch wenn wir das in Deutschland aktuell gut hinkriegen.
Allerdings sollte vor jeder Zentralisierung geklärt sein, wer im Ernstfall einspränge: Aufsicht, Abwicklung und Haftung sollten auf derselben Ebene verortet sein. Und: Es darf nicht zu Effizienzverlusten kommen. Das ist ironischerweise eine der Gefahren bei der Zentralisierung von Aufsicht. Es werden am Ende mehr Ressourcen gebraucht als vorher.
Worauf kommt es jetzt also an? Die Finanzierung der grünen und digitalen Transformation der Wirtschaft darf nicht durch weichere Kapitalanforderungen erkauft werden. Wir dürfen die Kalibrierung der Regulierung nicht schwächen, sonst bereiten wir den Boden für die nächste Finanzkrise. Aber wir müssen die Komplexität unserer Regulierung reduzieren. Was wir brauchen, sind klare und proportionale Regeln, die wir Aufseher in jedem Land der EU einheitlich umsetzen. Selektive Zentralisierung kann helfen, wenn sie die effektivere und effizientere Alternative ist. Wenn wir die Weichen so stellen, schaffen wir die Voraussetzungen für ein stabiles einheitlicheres und effizienteres Finanzsystem in Europa. Und dafür, dass Europas Wirtschaft die Chance hat, global noch stärker zu werden.
Mark Branson, Präsident der BaFin