Dr. Filip Uzelac-Schüler
Die allgemeine Inflation ist zuletzt gesunken. Doch die Kosten für Reparaturen und für die medizinische Versorgung sowie die Lohnkosten steigen deutlich. Schaden- und Unfallversicherer müssen das berücksichtigen. Aus Sicht der Finanzaufsicht BaFin reichen die bisherigen Maßnahmen der Unternehmen noch nicht aus. In Deutschland sind die Preise in den Jahren 2022 und 2023 deutlich gestiegen. Das haben nicht nur die Verbraucherinnen und Verbraucher gespürt, sondern auch die Versicherer. Die Inflation ist vor allem für die Schaden- und Unfallversicherer relevant. Allerdings reicht hier der Blick auf den Verbraucherpreisindex, den das Statistische Bundesamt und die Europäische Zentralbank erheben, nicht aus. Die Versicherer müssen auch die Schadeninflation betrachten. Das sind beispielsweise die Kosten für Material und Reparaturen oder die medizinische Versorgung.
Während der Verbraucherpreisindex zuletzt gegenüber den Vormonaten gesunken ist, ist die Schadeninflation weiterhin hoch. Darauf deuten wichtige Indikatoren hin: Der Reparaturkostenindex in der Kfz-Versicherung zeigt beispielsweise im 3. Quartal 2023 mit fast 8 Prozent einen ähnlich hohen Preisanstieg gegenüber dem Vorjahr wie im Jahr 2022, zudem steigen die Kosten der medizinischen Versorgung. Und auch die Löhne legen zu: nominal stiegen sie im 3. Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahresquartal um 6,3 Prozent, real, also nach Abzug der Inflation, um 0,6 Prozent.1
Die Schadeninflation muss daher weit oben auf der Agenda der Versicherer bleiben. Die entsprechenden Inflationsrisiken bestehen weiterhin. Wie im Vorjahr wird die BaFin daher sehr genau analysieren, wie die Unternehmen die Schadeninflation in ihrem Jahresabschluss 2023 berücksichtigen – und bei Bedarf eingreifen.
Die BaFin hatte bereits 2022 klargemacht: Sie erwartet, dass die Unternehmen die Inflation angemessen berücksichtigen. Die Inflationserwartungen fließen in die versicherungstechnischen Rückstellungen unter Solvency II ein. Rechnen die Unternehmen mit steigenden Preisen, erhöht das unter sonst gleichen Bedingungen tendenziell die Rückstellungen. Unternehmen, die nach Handelsgesetzbuch (HGB) bilanzieren, sollten bei der Berechnung der versicherungstechnischen Rückstellungen Abwicklungsverluste (siehe auch Infokasten „Abwicklungsergebnis“) vermeiden – und daher prüfen, ob angesichts der gestiegenen Schadeninflation höhere Rückstellungsbeträge erforderlich sind.
Haben die Unternehmen diese Erwartungen der Aufsicht erfüllt? Die Solvenzquoten der Schaden- und Unfallversicherer haben sich im Branchenschnitt gegenüber dem Jahr 2021 zwar leicht verbessert, die versicherungstechnischen Rückstellungen unter Solvency II sind aber leicht geschrumpft. Das ist angesichts der hohen Teuerungsrate überraschend.
Solvency II: Annahmen der Unternehmen zu optimistisch
Die Versicherungsunternehmen müssen unter Solvency II versicherungstechnische Rückstellungen für die zu erwartenden Schadenaufwendungen bilden. Steigt die Inflation, erhöhen sich, unter sonst gleichen Bedingungen, auch die Rückstellungen. Der Anstieg der Zinsen und die damit verbundene höhere Dis-kontierung der künftigen Schadenaufwendungen wirkte dem entgegen. Gerade bei den langabwickeln-den Sparten wie der Kfz Haftpflichtversicherung, bei denen die vollständige Begleichung der Schäden ggf. mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen kann, sanken die Rückstellungen. Diese Effekte sind von Unternehmen zu Unternehmen jedoch sehr verschieden. Sie hängen insbesondere auch von den An-nahmen ab, die die Unternehmen für die künftige Höhe der Inflation berücksichtigen.
Entgegen der 2022 von der BaFin geäußerten Erwartung haben viele Schaden- und Unfallversicherer bei der Berechnung der versicherungstechnischen Rückstellungen zum Jahresende 2022 eine schnelle Rück-kehr zum ursprünglichen Inflationsniveau innerhalb von zwei Jahren unterstellt. Dabei haben sie auch zum Teil optimistische Annahmen über die Höhe der zukünftigen Schadeninflation getroffen. Für das Jahr 2023 lagen die Annahmen über die Schadeninflation teilweise deutlich unter einschlägigen reprä-sentativen Inflationsindizes. Zudem haben viele Unternehmen überhaupt keine Einschätzung über die historische Inflation getroffen. Alle diese Feststellungen sieht die BaFin sehr kritisch.
Versicherer müssen nachbessern
Es ist klar: Für den Bilanzstichtag 2023 müssen viele Versicherer nachbessern. Denn sie müssen gemäß § 75 Abs. 1 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) ihre versicherungstechnischen Rückstellungen vorsichtig, verlässlich und objektiv bewerten. Die Unternehmen sollten beachten, dass die Schadeninflation für verschiedene Sparten weiterhin wesentlich höher ist als die allgemeine Inflation. Außerdem sollten sie die hohe Unsicherheit mit Blick auf künftige Schadenaufwendungen besser berücksichtigen. Besonderes Augenmerk sollten die Versicherer auf die Annahmen der künftigen Schadeninflation in den langabwickelnden Sparten mit Personenschäden legen.
Hier könnte die Schadeninflation, insbesondere durch die steigenden Löhne und die höheren Kosten für die medizinische Versorgung, zu wesentlich höheren künftigen Schadenaufwendungen führen. Die BaFin erwartet daher, dass die Unternehmen in diesem Bereich fortan bei den Schadeninflationsannahmen eine vorsichtige Expertenschätzung vornehmen, die den regulatorischen Anforderungen genügt. Vor allem erwartet die BaFin, dass die Unternehmen in den langabwickelnden Sparten in der Regel eine signifikant höhere kumulierte Überinflation (siehe Infokasten „Überinflation und kumulierte Überinflation“) als in den kurzabwickelnden Sparten annehmen, und auch mehr als zwei Jahre Zusatzinflation.
Zudem sollten die Unternehmen bei ihrer aktuariellen Methodik zur Berücksichtigung der Schadeninflation Methoden vermeiden, die tendenziell zu einer Unterschätzung der versicherungstechnischen Rückstellungen führen können. Mit Blick auf den Inflationseffekt sollten die angepassten Annahmen nach Ansicht der BaFin bei verschiedenen Unternehmen die versicherungstechnischen Rückstellungen unter Solvency II erhöhen.
HGB-Rechnungslegung: Prämien müssen erhöht werden
Bei der Reservierung unter HGB werden die versicherungstechnischen Rückstellungen der Schaden- und Unfallversicherungsunternehmen ganz überwiegend nicht diskontiert. Der Zinsanstieg führte hier daher nicht zu sinkenden Rückstellungen. Im Geschäftsjahr 2022 stiegen nicht nur die Zahlungen für Vorjahres-Versicherungsfälle teils deutlich, besonders in der sonstigen Kraftfahrtversicherung (Teil- und Vollkasko) sowie in der Feuer-, Wohngebäude- und Hausratversicherung. Die Versicherer haben darüber hinaus auch reagiert und die bilanziellen Rückstellungen für noch nicht abgewickelte Versicherungsfälle erhöht. Insbesondere in der Kraftfahrtversicherung stiegen die Bruttorückstellungen für noch nicht abgewickelte Versicherungsfälle des Geschäftsjahrs stark.
Im Jahr 2023 führte die hohe Inflation allerdings nur zu moderaten Prämienanstiegen der Schaden-Unfallversicherer. In einzelnen Sparten wie der Kraftfahrtversicherung sanken die Prämien aufgrund des hohen Wettbewerbsdrucks teilweise sogar. Da in diesen bedeutenden Sparten für das Geschäftsjahr 2023 Verluste drohen, müssen die Unternehmen die Prämien dringend erhöhen. Die BaFin hatte bereits frühzeitig angemahnt: dauerhaft defizitäre Versicherungszweige sind nicht akzeptabel.
Für den Jahresabschluss 2023 gilt weiterhin: Die Unternehmen müssen prüfen, ob sie eine Rückstellung für drohende Verluste (RdV) aus dem Versicherungsgeschäft bilden müssen, und das Ergebnis dieser Prüfung dokumentieren. Eine RdV ist insbesondere für Verluste zu bilden, mit denen nach dem Abschlussstichtag aus bis zum Ende des Geschäftsjahres geschlossenen Verträgen zu rechnen sind (§ 341e Abs. 2 Nr. 3 VAG). Eine solche Verlustsituation entsteht typischerweise bei zu geringen Prämien. Wenn Unternehmen ihre Prämien nicht anpassen, obwohl es bereits in der Vergangenheit Zweifel gab, ob diese auskömmlich sind, beispielsweise, weil ein Unternehmen wiederholt Verluste erwirtschaftet hat, erwartet die BaFin die Bildung einer RdV.
Überinflation und kumulierte Überinflation
Der Begriff der Schadeninflation wurde in dem BaFinJournal-Artikel „Steigende Inflation: Gekommen, um vorerst zur bleiben“ näher spezifiziert. Die gesamte Höhe der Schadeninflation in einem zukünftigen Kalenderjahr (Geschäftsjahr) umfasst konzeptionell die in den Schadendaten (Schadendreiecke) eines Versicherers enthaltene historische Inflation der vergangenen Jahre (implizite Inflation), zuzüglich einer Überinflation (Zusatzinflation).
Die kumulierte Überinflation für ein zukünftiges Kalenderjahr ergibt sich multiplikativ durch die Höhe der angenommen Überinflation in den einzelnen Kalenderjahren bis zum betrachteten zukünftigen Kalenderjahr. Die gesamte berücksichtigte kumulierte Überinflation wird bestimmt sich für die Anzahl der Jahre, für die eine Überinflation angenommen wird, multiplikativ durch die Höhe der Überinflation in den einzelnen zukünftigen Kalenderjahren.
Quelle: BaFin Journal