Die Europäische Kommission und der Hohe Vertreter haben heute den Bericht über die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der Sonderverwaltungsregion Hongkong vorgelegt. Gegenstand dieses 23. Jahresberichts an das Europäische Parlament und den Rat sind die Entwicklungen im Jahr 2020. Der Hohe Vertreter/Vizepräsident Josep Borrell erklärte dazu: „Im Laufe des Jahres 2020 wurden wir Zeugen einer alarmierenden Verschlechterung der politischen Lage in Hongkong. Das von Beijing erlassene nationale Sicherheitsgesetz wird derzeit genutzt, um gegen prodemokratische Kräfte vorzugehen, abweichende Meinungen zu unterdrücken und Grundfreiheiten auszuhöhlen. Die Festnahme Dutzender Demokratieaktivistinnen und -aktivisten im Januar dieses Jahres bestätigt, dass diese Entwicklung an Tempo zulegt. China untergräbt ganz bewusst den Grundsatz „Ein Land, zwei Systeme“ und verstößt damit gegen seine internationalen Verpflichtungen und das Hongkonger Grundgesetz. Die regressiven Änderungen des Wahlsystems, die gestern in Beijing angenommen wurden, sind noch ein weiterer Schritt in diese Richtung.”
Dem Bericht zufolge musste Hongkong im Laufe des vergangenen Jahres eine weitere starke Aushöhlung seines hohen Maßes an Autonomie, seiner demokratischen Grundsätze und der Grundfreiheiten hinnehmen, deren Schutz die chinesischen Behörden bis mindestens 2047 zugesagt hatten. Diese rasche Verschlechterung lässt Zweifel an der Bereitschaft Chinas aufkommen, seinen internationalen Verpflichtungen und seinen Zusagen gegenüber der Bevölkerung Hongkongs nachzukommen und den Grundsatz „Ein Land, zwei Systeme“ und das Hongkonger Grundgesetz zu achten.
Autonomie, Demokratie und Grundfreiheiten stark beeinträchtigt
Am 30. Juni 2020 erließ der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses Chinas per Beschluss ein nationales Sicherheitsgesetz für Hongkong. Inhaltlich bot das Gesetz Anlass zu großer Sorge, die sich angesichts der darauf folgenden Ereignisse als weitgehend berechtigt erwiesen hat. Das Gesetz hindert die Menschen in Hongkong daran, geschützte Rechte und Freiheiten auszuüben, und war ein zentrales Element bei dem gewaltsamen Vorgehen gegen die Opposition und der Festnahme zahlreicher Aktivistinnen und Aktivisten. Der Trend zur Selbstzensur in den Medien, an den Hochschulen und in der Zivilgesellschaft geht steil nach oben. Es herrschen aber auch Bedenken hinsichtlich der extraterritorialen Auswirkungen des Sicherheitsgesetzes und der möglichen direkten Konsequenzen für Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen und die Interessen der EU. Die Behörden Festlandchinas haben die Aufsicht über die Angelegenheiten Hongkongs verstärkt. In die Kompetenz und Unparteilichkeit der Justiz wird weiterhin großes Vertrauen gesetzt, aber inwieweit Richter Rechte und Freiheiten im Kontext der Umsetzung des Sicherheitsgesetzes schützen können, ist weniger klar.
Die Wahlen zum Legislativrat, die für den 6. September 2020 vorgesehen waren, wurden um ein Jahr verschoben. Die Regierung begründete dies mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie. Im November wiesen die Hongkonger Behörden vier prodemokratische Abgeordnete aus. Dies geschah auf einen Beschluss des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses Chinas hin und hat Hongkongs hohes Maß an Autonomie und demokratische Gewaltenteilung noch weiter geschwächt.
In dem Jahresbericht werden die wechselseitigen Interessen und Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Hongkong beschrieben. Abgesehen von intensiven zwischenmenschlichen Kontakten sind in Hongkong auch rund 1560 Unternehmen aus Europa ansässig, und es wurden 163 Mrd. Euro an europäischen Investitionen getätigt. Selbst in dem fordernden Kontext der globalen Pandemie erreichte das bilaterale Handelsvolumen 2020 mehr als 27,4 Mrd. Euro, womit Hongkong im Jahr 2020 zum zwölftgrößten Handelspartner der EU in Asien aufstieg. Über 60 % der ausländischen Direktinvestitionen in und aus China gehen über Hongkong. Der Erlass des nationalen Sicherheitsgesetzes und die sich zuspitzende Lage in Hongkong im Laufe des Jahres 2020 haben auch die Rahmenbedingungen für Unternehmen verschlechtert.
Da sich der heute angenommene Bericht auf das Jahr 2020 bezieht, sind die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Hongkong im Jahr 2021 nicht abgedeckt. Dazu zählen unter anderem die Massenverhaftungen von Personen, die an den Vorwahlen der Pro-Demokratie-Bewegung im Juli 2020 beteiligt waren, am 6. Januar und deren anschließende Strafverfolgung sowie der Beschluss des Nationalen Volkskongresses Chinas vom 11. März zur Änderung des Hongkonger Wahlsystems, der erhebliche Folgen für die demokratische Rechenschaftspflicht und den politischen Pluralismus in Hongkong haben wird.
Hintergrund
Seit der Rückgabe Hongkongs an die Volksrepublik China im Jahr 1997 verfolgen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der Sonderverwaltungsregion Hongkong, in der der Grundsatz „Ein Land, zwei Systeme“ gilt, sehr genau.
Gemäß der 1997 gegenüber dem Europäischen Parlament eingegangenen Verpflichtung legen die Europäische Kommission und der Hohe Vertreter jährlich einen Bericht über die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Hongkong vor. In diesem 23. Bericht geht es um die Entwicklungen im Jahr 2020.
Die EU reagierte auf den Erlass des nationalen Sicherheitsgesetzes mit der Verabschiedung eines Maßnahmenpakets am 28. Juli. Die wichtigsten Maßnahmen sind
- die Aussetzung der Auslieferungsabkommen bzw. der Verhandlungen über solche Abkommen mit Hongkong durch sechs EU-Mitgliedstaaten;
- eine verschärfte Prüfung von relevanten Ausfuhren für die Endverwendung in Hongkong durch die Behörden der Mitgliedstaaten;
- die koordinierte Anwesenheit von diplomatischen Vertretern der EU und ihrer Mitgliedstaaten in Hongkong, um Anhörungen prodemokratischer Aktivisten vor Gericht zu beobachten;
- die Intensivierung von EU-Kontakten mit zivilgesellschaftlichen Organisationen in Hongkong;
- Studierende und Mitarbeiter von Hochschulen und Universitäten aus Hongkong nehmen weiterhin an einer Vielzahl von Hochschulaustauschprogrammen im Rahmen von Erasmus+ und bilateralen Austauschprogrammen der Mitgliedstaaten teil;
- es wurden keine neuen Verhandlungen mit Hongkong aufgenommen;
- außerdem hat die EU kontinuierlich ihre Bedenken gegenüber den Behörden in Hongkong und Beijing und auch direkt gegenüber der chinesischen Führung geäußert, unter anderem auf dem Gipfeltreffen EU-China am 22. Juni 2020 und den Tagungen der Führungsspitzen der EU und Chinas am 14. September und 30. Dezember.
Auf der Tagung des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ am 22. Februar 2021 bestätigten die EU-Außenminister, dass die EU bereit ist, zusätzliche Schritte zu unternehmen, wenn sich die Lage hinsichtlich der politischen Freiheiten und der Menschenrechte in Hongkong noch weiter verschlechtert. In Anbetracht der Tatsache, dass der Nationale Volkskongress Chinas am 11. März 2021 einen Beschluss über das Hongkonger Wahlsystem erlassen hat, wird die EU im Gesamtkontext der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und China zusätzliche Schritte in Erwägung ziehen und die Lage in Hongkong noch aufmerksamer verfolgen.