Lieber Herr Döpfner,
vielen Dank für Ihren freundlichen und offenen Brief. Wie es der Zufall will, habe ich am selben Tag als Ihr Schreiben online veröffentlicht wurde, bei der virtuellen Tagung des World Economic Forum in Davos unter anderem genau über dasselbe Thema gesprochen – die Schattenseiten der Digitalisierung. Denn ja, die zunehmende Macht der großen Internetplattformen, ihr gewaltiger ökonomischer und auch politischer Einfluss bereitet auch mir zunehmend Sorge. Wie Sie bin ich der Meinung, dass wir nicht nur über die großen Verheißungen der Digitalen Welt sprechen sollten, sondern auch über die Probleme, die sie unser Volkswirtschaft, unserer Gesellschaft und auch unserer Demokratie bereiten. Mir ist das zuletzt erneut klargeworden, als ich die Bilder im Fernsehen sah, wie ein aufgebrachter Mob das US-Kapitol stürmte. Diese Bilder lassen mich nicht in Ruhe. So sieht es also aus, wenn auf Worte Taten folgen. So sieht es aus, wenn die Botschaften, die Online-Plattformen und Soziale Medien verbreiten, zu einer Gefahr für die Demokratie werden.
Wir sollten diese Bilder aus den USA als Mahnung begreifen. Denn allem Urvertrauen in unsere europäische Demokratie zum Trotz – wir Europäer sind vor solchen Entwicklungen nicht gefeit. Es sagt sich zwar immer so leicht, dass Demokratie und Werte Teil unserer DNA sind. Und das ist auch richtig. Aber wir müssen unsere Demokratie jeden Tag aufs Neue schützen und unsere Institutionen vor dem zerstörerischen Einfluss von Haßrede, Desinformation, Fake-News und der Aufstachelung zu Gewalt bewahren.
Denn das Geschäftsmodell von Online-Plattformen hat Auswirkungen – nicht nur auf den freien und fairen Wettbewerb, sondern auch auf unsere Demokratien, unsere Sicherheit und die Qualität unserer Informationen. Deshalb müssen wir diese immense und bislang weitgehend unkontrollierte politische Macht der großen Internetkonzerne demokratisch einhegen. Denn in einer Welt, in der polarisierende Meinungen die beste Chance auf Gehör haben, ist der Weg von abseitigen Verschwörungstheorien zu toten Polizisten nicht weit. Auch das hat der Sturm auf das Kapitol leider gezeigt.
Lassen Sie mich zunächst eines klarstellen, damit kein falscher Zungenschlag in unsere Debatte kommt. Wir in Europa schätzen Innovation. Wir begeistern uns für die Wunder moderner Technik. Und wir sind neugierig auf Neues. Uns geht es da nicht anders als den deutschen Verlegern. Auch sie werden nicht müde, neue, digitale Formate ihrer Publikationen auf den Markt zu bringen und testen aus, was Ihre Leserinnen und Leser interessiert und was nicht.
Die Pandemie führt uns derzeit überdies Tag für Tag vor Augen, wie sehr uns digitale Anwendungen helfen können – vom home schooling bis zum home office. Wir in Europa haben uns daher entschlossen, beim Aufbau nach der Coronakrise neben dem Klimaschutz das Digitale ins Zentrum zu stellen. 20 Prozent der Gelder unsers Aufbauprogramms Next GenerationEU sollen in digitale Projekte fließen. Sei es, um die lebhafte Startup-Szene in Lissabon oder Sofia zu unterstützen, um Universitäten und Forschungsreinrichtungen besser zu vernetzen oder um eine europäische Cloud aufzubauen.
Und dennoch: Bei aller Offenheit für die Innovationen der digitalen Welt darf Europa nie vergessen, wem diese Anwendungen und Möglichkeiten am Ende dienen sollen – unseren Bürgerinnen und Bürgern. Bei uns, das ist unser europäischer Ansatz, stehen weder der Markt noch der Staat, sondern die Menschen im Mittelpunkt.
Deswegen hat die Kommission im Dezember den Digital Services Act und den Digital Market Act auf den Weg gebracht. Das ist unser neues Regelwerk für den digitalen Markt und unsere Gesellschaft. Grob vereinfacht, wollen wir damit erreichen, dass online künftig verboten ist, was auch in der analogen Welt verboten ist. Genauso, wie Sie es in Ihrem Brief fordern. Wir wollen zudem, dass die Plattformen Transparenz schaffen, wie ihre Algorithmen funktionieren. Denn es kann nicht sein, dass Entscheidungen, die weitreichende Auswirkungen auf unsere Demokratie haben, von Computerprogrammen getroffen werden, die kein Mensch kontrolliert.
Zudem wollen wir klare Vorgaben, dass die Internetkonzerne Verantwortung für die Art und Weise übernehmen, in der sie Inhalte verbreiten, bewerben und entfernen. Sie sollen das systemische Risiko, das sie darstellen können, identifizieren und entschärfen. Denn auch das ist mir wichtig: So verlockend es für Twitter gewesen sein mag, den Account von Donald Trump fünf Minuten nach zwölf abzuschalten – ein solch schwerwiegender Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung sollte nicht allein auf Unternehmensregeln beruhen. Für solche weitreichenden Entscheidungen muss es einen Rechtsrahmen geben. Und über diesen Rechtsrahmen entscheiden Parlamente, Politiker und Politikerinnen – und nicht die Manager im Silicon Valley.
Sie fordern, den großen Gatekeeper-Plattformen zu verbieten, persönlichkeitsrelevante und sensible Daten zu speichern und für kommerzielle Zwecke zu nutzen. Und es stimmt ja: jedes Mal, wenn wir auf eine Webseite gehen und aufgefordert werden, eine neue digitale Identität zu erstellen oder uns bequem über eine große Plattform anmelden, haben wir in Wahrheit keine Ahnung, was mit unseren Daten geschieht.
Daher spricht die Harvard-Professorin Shoshana Zuboff in dem von Ihnen zitierten Standardwerk vom „Surveillance capitalism“. Und in der Dokumentation „The Social Dilemma“ erfahren wir schon ganz zu Beginn: Wir, die Nutzerinnen und Nutzer selbst sind das Produkt, um das es den großen Plattformen geht. Je mehr sie über uns erfahren, desto wertvoller sind wir für sie. So können sie uns zielgenau mit Werbung eindecken – und dafür ihren Kunden immer höhere Rechnungen stellen.
Lassen Sie mich drei Beispiele nennen, wie wir künftig unsere Verbraucherinnen und Verbraucher und ihre Daten hier noch besser schützen wollen.
Erstens: In unserem Digital Services Act treffen die großen Internetplattformen, also solche, die in der EU mehr als 45 Millionen Nutzerinnen und Nutzer haben, besondere Pflichten. Beispielsweise müssen sie ihren Nutzerinnen und Nutzern künftig die Möglichkeit anbieten, Hinweise auf weitere Inhalte zu unterbinden, wenn diese auf Profiling beruhen, also dem systematischen Auswerten ihrer Daten durch Computerprogramme.
Zweitens: Wir verstärken und untermauern die Bestimmungen unserer Datenschutzgrundverordnung. Obwohl sie erst seit 2018 in Kraft ist, ist die DSGVO in Windeseile zum Vorbild für weite Teile der Welt geworden. Dieses Beispiel zeigt übrigens auch, dass Europa keinesfalls „fast immer zu spät“ reagiert, wie Sie schreiben. Im Gegenteil: mit der Datenschutzgrundverordnung sind wir es, die frühzeitig Standards gesetzt haben. Mit Hilfe der Bestimmungen unseres Digitale-Märkte-Gesetz wollen wir den großen Gatekeeper-Plattformen künftig untersagen, persönliche Daten ihrer Nutzer, die sie über ihre Hauptplattform erhalten, mit zusätzlichen Daten, die über weitere Dienste kommen, automatisch zu einem Profil zu kombinieren. So wollen wir den gläsernen Kunden verhindern, vor dem Sie in ihrem Brief zurecht so eindringlich warnen. Zudem sorgen wir so dafür, dass der Wettbewerb fair bleibt.
Drittens: Wir werden noch in diesem Jahr in Absprache mit unseren Mitgliedsstaaten eine sichere europäische Identität vorschlagen – und unseren Bürgerinnen und Bürgern so eine Alternative anbieten, mit der sie sich mit gutem Gewissen im Internet bewegen können – sei es, um Steuern zu zahlen, sich an der Uni anzumelden oder ein Elektroauto zu mieten.
Mit diesen Vorhaben nehmen wir nicht nur die Bedenken unserer Bürgerinnen und Bürger auf. Wir folgen auch den Verpflichtungen, die aus Europäischen Grundrechten herrühren. Denn in Europa ist das Internet schon längst nicht mehr der Wilde Westen.
Die Europäische Grundrechte-Charta schützt in ihren Artikeln 7 und 8 das Recht auf Achtung des Privat – und Familienlebens und das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten.
Diese Grundrechte stehen nicht nur auf dem Papier. Wie Sie gesehen haben, leiten sie uns bei der Gesetzgebung. Und sie haben Biss, auch vor Gericht. Erinnern Sie sich beispielsweise an die beiden sogenannten Schrems-Urteile, in denen der Europäische Gerichtshofs Instrumente zum Transfer personenbezogener Daten an Drittstaaten für unwirksam erklärte. Die Folge: Digitale Unternehmen müssen garantieren, dass EU-Standards gelten, wenn sie personenbezogene Daten aus der EU transferieren. Und wenn sie das nicht können, dann dürfen diese Daten eben nicht weitergeleitet werden.
Sie sind sicher wie ich erleichtert, dass Europa mit US-Präsident Joe Biden wieder einen Freund im Weißen Haus hat. Und in der Tat sind die ersten Signale, die wir aus Washington hören, vielversprechend, auch, was eine mögliche Zusammenarbeit bei digitalen Themen angeht.
Ich kann mir als ersten Schritt beispielsweise einen gemeinsamen Trade- und Technolgy-Council vorstellen, wo wir Standards und Normen absprechen. Gemeinsam mit den USA könnten wir darüber hinaus ein weltweit gültiges Regelbuch für die Digitalwirtschaft schaffen: Vom Datenschutz und Privatsphäre bis zur Sicherheit technischer Infrastruktur. Ein Regelwerk, das auf unseren Werten basiert: Menschenrechte und Pluralismus, Inklusion und der Schutz der Privatsphäre. Selbst ein Vorhaben, von dem wir noch bis vor kurzem glaubten, wir müssten es womöglich ohne unsere Freunde in den USA durchsetzen, scheint mit einem Mal wieder als gemeinsames Projekt möglich – die Einführung einer Digitalsteuer.
Sie weisen in Ihrem Schreiben auf den ungebrochenen Aufstieg der großen Techkonzerne hin, ihren Börsenwert, der ausgerechnet jetzt in der Krise in den Himmel steigt. Und sie vergleichen dies damit, dass zwischen Januar 2020 und Januar 2021 weltweit 255 Millionen Arbeitsplätze weggefallen seien. Auch mich sorgt, wie sehr diese Krise Ungleichheiten verstärkt. Restaurantbetreiber und Geschäftsinhaberinnen fürchten wegen des Lockdowns um ihre Existenz. Sie haben ihre Restaurants und Geschäfte vorrübergehend geschlossen, damit wir alle vor dem Virus besser geschützt sind. In der gleichen Zeit machen viele große Internetkonzerne das Geschäft ihres Lebens – darunter einige, die in Europa noch nicht mal richtig Steuern zahlen. Das ist nicht fair. Das können wir den Menschen nicht länger zumuten.
Verstehen Sie mich auch hier bitte nicht falsch. Unser Binnenmarkt mit Zugang zu 450 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern ist dafür da, gute Geschäfte zu machen. Und wir laden dazu Unternehmen aus der ganzen Welt ein, von diesem einzigartigen Markt zu profitieren. Im Gegenzug erwarten wir dann aber auch, dass sie sich an der Finanzierung all dessen beteiligen, was unseren Binnenmarkt so stark macht – Schulen und Universitäten, Forschung und Infrastruktur, eine verlässliche öffentliche Verwaltung und ein Gesundheitswesen, dass in dieser Krise jeden Tag aufs Neue zeigt, wie belastbar es ist.
Wir wollen daher die Gespräche über eine solche Steuer im Rahmen der Industrieländerorganisation OECD intensiveren und hoffen, dabei auch mit den USA eine Einigung zu erzielen. Wir bleiben aber weiter entschlossen, notfalls im europäischen Rahmen allein eine Lösung zu finden. Und zwar noch dieses Jahr.
Lieber Herr Döpfner, Sie sehen: wir sind längst dabei, die Chance Europas zu nutzen. Denn in der Tat: Europa dient seinen Bürgerinnen und Bürgern. Das gilt in der analogen Welt. Und das gilt auch online. Ohne Einschränkungen.
Herzlich, Ihre
Ursula von der Leyen
Bild: Mathias Döpfner, CEO Axel Springer