Daniel Zwick
Der Zahlungsdienstleister Wirecard kann wegen milliardenschwerer Unklarheiten in der Bilanz seinen Jahresabschluss erneut nicht vorlegen. Die Reaktion an der Börse folgte prompt. Nach monatelangen Verzögerungen sollte der Zahlungsdienstleister heute seine Bilanz vorlegen. Doch die Wirtschaftsprüfer von EY verweigern das Testat. Für Guthaben in Höhe von 1,9 Milliarden Euro fehlen Belege. Der Zahlungsdienstleister Wirecard muss die Vorlage seiner Bilanz nochmals verschieben, diesmal auf unbestimmte Zeit. Grund dafür sind Zweifel der Abschlussprüfer von EY an der Dokumentation des Unternehmens. EY habe für „Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro noch keine ausreichenden Prüfungsnachweise“ erlangen können, teilte das Unternehmen in einer Ad-hoc-Mitteilung mit. Das entspreche etwa einem Viertel der Konzernbilanzsumme.
Laut Unternehmen bestehen Hinweise, dass EY von einem Treuhänder oder Banken „unrichtige Saldenbestätigungen zu Täuschungszwecken vorgelegt wurden“. Daraus erhalte der Prüfer „unrichtiges Vorstellungsbild über das Vorhandensein der Bankguthaben bzw. die Führung von Bankkonten zugunsten der Wirecard-Gesellschaften“.
Für Wirecard wird das Bilanzproblem nun zu einem wirtschaftlichen: Sollte das Unternehmen bis morgen kein Testat erhalten – was wohl nicht geschehen wird – dann können Kredite in Höhe von rund zwei Milliarden Euro gekündigt weden. An der Börse reagierten die Anleger geschockt. Die Aktie stürzte um 60 Prozent ab.Dabei hatte zuletzt unter den Aktionären von Wirecard wieder die Hoffnung regiert. Nach den extremen Abstürzen im März und April war der Kurs wieder über 100 Euro gestiegen. Endlich sollte der Dax-Konzern heute seine testierte Bilanz vorlegen – ein Termin, der mehrfach verschoben wurde. Doch der Bilanztag begann wieder mit einer Peinlichkeit. Normalerweise stellt das Unternehmen Finanzberichte um 7.30 Uhr auf seine Internetseite. An ähnliche Zeiten halten sich auch andere Firmen an der Börse – damit die Zahlen vor dem Start des Handels bekannt sind.
Heute jedoch stand auch eine Stunde nach Start des Aktienhandels bei Wirecard: nichts. Bei Anlegern machte sich Unruhe breit: Die Aktie stürzte um mehr als fünf Prozent ab, wieder unter die Marke von 100 Euro. Ein Wirecard-Sprecher erklärte, die Zahlen würden im Laufe des Vormittags vorgelegt. Die Verzögerungen wecken Erinnerungen an den Sonderprüfbericht von KPMG, den Wirecard selbst in Auftrag gegeben hatte, und dessen Publikation immer wieder verzögert wurde. Mehrfach hatte das Unternehmen den Bericht angekündigt, zuletzt sollte er am 27. April nach US-Börsenschluss um 22 Uhr veröffentlicht werden. Er kam dann aber erst am folgenden Morgen um 7.52 Uhr.
Abschlussprüfer werfen Wirecard-Partnern „Täuschung“ vor
Ursprünglich sollte die Bilanz des Konzerns bereits am 8. April vorgelegt werden. Dann verschob Wirecard den Termin auf den 30. April. Am Tag des KPMG-Berichts kam eine weitere Verzögerung auf den 4. Juni; Ende Mai dann die Verschiebung auf den 18. Juni. Als Posse lassen sich diese Terminänderungen schon lange nicht mehr abtun. Denn sie haben einen ernsthaften Hintergrund: Die Sonderprüfung hatte eklatante Mängel in der Dokumentation des Unternehmens offengelegt. Für große Teile des Geschäfts fehlen offenbar detaillierte Belege.
Das bringt auch die Bilanzprüfer von EY in Schwierigkeiten. Zwar hatte Wirecard selbst in einem längeren Dokument die Unterschiede zwischen Bilanzprüfung und „forensischer Prüfung“, wie sie KPMG durchgeführt hat, aufgedröselt. Doch ob sich die EY-Prüfer bei ihrem Testat auf diese Rechtsposition berufen können, ist fraglich. Schon jetzt ist eine Klage gegen ein früheres EY-Testat für Wirecard zum Landgericht Stuttgart unterwegs. Für die heutige Bilanz dürfte ähnliches drohen.
Photo: Wirecard CFO Alexander Van Knoop
Wirtschaftsredakteur Daniel Zwick/ Die Welt 18. Juni 2020